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zwischen diesen beiden Erfahrungen“ stand, war 1951 „übersiedelt worden“. Mit 14 oder 16 Jahren konnte er sich entscheiden, ob er österreichischer oder schwedischer Staatsbürger sein wollte, und entschied sich für Österreich. Es war keine politische, sondern eine Entscheidung für die Natur Österreichs, schreibt er. Die Landschaft und die hohen Berge standen gegen den „austrofaschistischen Rest-Ungeist oder den abgeschwächten Altnazi- oder Neonazi-Ungeist“. Seine Präsentation gestaltete Eva Kreisky zum Buchbeitrag. Peter Kreisky, Siglinde Bolbecher und Tomas Böhm ist dieses Buch gewidmet. Sie haben sein Erscheinen nicht mehr erlebt. Herausgegeben wurde der Sammelband von Irene Nawrocka, wissenschaftliche ÖAWMitarbeiterin am Institut für Neuzeit- und Zeitgeschichtsforschung (Österreichisches Biographisches Lexikon). Sie engagiert sich in der Exilforschung, institutionell als Vorstandsmitglied der Theodor Kramer Gesellschaft, im wissenschaftlichen Beirat und der FrauenAG der öge. Ihrem Studium der Skandinavistik (neben der Germanistik und der Vergleichenden Literaturwissenschaften) verdanken wir Auswahl und Übersetzung von zwei wichtigen Buchbeiträgen der Historiker Klas Ämark, der kritisch und umfassend die schwedische Flüchtlingspolitik analysiert, und Henrik Rosengren, der die komplexen Exil-Lebensläufe der Musiker Maxim Stempel und Hans Holewa darstellt. In ihrem Vorwort skizziert Irene Nawrocka die prekäre politische und wirtschaftliche Situation des Exillandes Schweden, das dem bedrohlichen Handelspartner Deutschland weitreichende Zugeständnisse machte. So konnte der BermannFischer Verlag im schwedischen Exil die unter dem Titel „Briefe der deutschen Vertriebenen“ geplante Sammlung von Emigrantenbriefen, an deren Auswahl Thomas Mann, Franz Werfel, Carl Zuckmayer und Alfred Döblin beteiligt sein sollten, nicht realisieren, weil die schwedische Presse Befürchtungen geäußert hatte, die Sammlung könnte Hetzbriefe gegen Deutschland enthalten.° Die Zeittafel im Anhang durchmisst die Zeit zwischen Jänner 1933 und 30. August 1946, als die Österreichische Vereinigung in Schweden (ÖVS) erstmals einen Rückkehrtransport mit ca. 160 ÖsterreicherInnen, darunter auch Wehrmachtsdeserteuren, organisierte. Ihr entnehmen wir beispielsweise, dass sich König Gustav V. im Oktober 1941 persönlich in einem Briefan Hider für den Kampf gegen den Bolschewismus bedankte, aber auch, dass Schweden im Oktober 1943 die 7.000 geflohenen Juden aus Dänemark aufnahm. Der Beitrag über Raoul Wallenberg von Tanja Schult und der Überlebensbericht von Walter Heller, der 1944 in Budapest mit einem schwedischen Schutzpass dem Tod entkam, belegen, dass Schweden auch außerhalb ihres Landes Flüchtlingsleben retteten. Aussagen zur Struktur des Exils ermöglicht das ÖAW-Forschungsprojekt zur namentlichen Erfassung des österreichischen Exils in 70 ZWISCHENWELT Schweden, das Simon Usaty, Historiker und Mitarbeiter der am öge, 2012 abschloss und im Buch vorstellt. 614 Personen von den 700 bis tausend Flüchtlingen, von denen die Literatur ausgeht, konnten auf Basis einer Vielzahl von Quellen und Archiven namentlich erfasst und in eine Datenbank integriert werden. 59,6 Prozent waren Männer. Die größte Alterskohorte (43,5%) stellten Flüchdinge, die zwischen 1900 und 1919 geboren waren. Von mindestens 368 Personen (59,9%) konnte festgestellt werden, dass sie aufgrund ihrer jüdischen Herkunft von rassistischer Verfolgung betroffen waren. Bei vielen spielte aber sowohl die Herkunft als auch die politische Betätigung als Fluchtgrund eine Rolle. Mindestens 53 wurden von der Flüchtlingshilfe der Arbeiterbewegung betreut. 157 der im Projekt erfassten Personen (64% davon unter 18 Jahren) wurden von der Israelmission nach Schweden gebracht, der im Buch ein eigener Beitrag von Thomas Pammer gewidmet ist. 34 österreichische Wehrmachtsdeserteure, die Schweden zwischen 1941 und 1945 erreichten, konnten namentlich ausfindig gemacht werden, unter ihnen der Tiroler Josef Huber, der eine Gruppe von 18 Leuten nach Schweden führte. Von den etwa hundert Überlebenden der Konzentrations- und Vernichtungslager, die im April 1945 vom schwedischen Roten Kreuz/Graf Bernadotte gerettet wurden, sind 27 Namen und Lebensläufe bekannt, wie jene der österreichischen Widerstandskämpferinnen Lisa Gavri¢ und Mela Ernst aus dem KZ Ravensbrück. Usaty hat zudem eine Vielzahl von Kurzbiografien v/ erfasst, die zusätzlichen Flüchtlingen, darunter auch vielen Frauen, nicht nur Namen, sondern auch Kontur verleihen. Im Anhang findet sich die Namensliste aller erfassten österreichischen ExilantInnen in Schweden. Was fehlt in dieser Fülle an neuen Einblicken und Analysen? Mit Ausnahme von Helena Lanzer-Sillén, die auch Mutter Wanda Lanzer und Grofmutter Helene Bauer, Mitarbeiterin und Gattin von Otto Bauer, mit ihren Erzählungen lebendig werden lässt, kommt kein weiblicher Flüchtling selbst zu Wort, auch nicht über schriftliche Erinnerungen, Briefe oder andere Selbstzeugnisse. Dabei spielt gewiss der deutlich geringere Anteil der Frauen im Exil eine Rolle, der wiederum die Aufnahmeprioritäten Schwedens widerspiegelt. „Aufgenommen wurden vor allem politische Flüchtlinge. Meist waren dies Männer, vor allem Sozialdemokraten, die die schwedischen Behörden bereitwillig aufnahmen. Rassistisch Verfolgte — vorwiegend Juden — wurden bereits durch die Gesetzesvorlage diskriminiert, da man sie nicht als Flüchtlinge anerkannte“, merkt Klas Ämark dazu kritisch an. Ein Grund war vermutlich auch die häufige Bildungshierarchie der Geschlechter, die erst der bekannteste schwedische Exilant, der österreichischer Bundeskanzler wurde und die Zweite Republik maßgeblich prägte, abschaffte. Bruno Kreisky, durch den das schwedische Exil im kulturellen Gedächtnis Österreichs weitaus stärker verankert ist als es die Zahl der Aufgenommenen vermuten ließe, ist kein eigenes Kapitel gewidmet. Er ist trotzdem omnipräsent im Buch, nicht nur im Beitrag seines Sohnes. Oliver Rathkolb, der Biograph Bruno Kreiskys, zeigt Parallelen in den Lebensläufen Kreiskys und Otto Binders auf. Siglinde Bolbecher belegt seinen Pragmatismus mit einem Zitat aus dem Jahr 1939: „Wir sind für die Wiederherstellung eines selbständigen Österreichs; ob wir eine Nation sind oder nicht, darüber werden wir reden, wenn es dieses selbständige Österreich gibt.“ Der deutsche Historiker Helmut Müssener, Emeritus der Universität Stockholm und Autor eines Standardwerkes über das Exil in Schweden, führt in seiner umfassenden Analyse, die u.a. auf Institutionen, AkteurInnen, Publikationen und Divergenzen des Exils eingeht, zahlreiche Beispiele für die rührigen, die österreichische Kontinuität betonenden Bemühungen Kreiskys an, seinen Landsleuten zu helfen. So erreichte er, dass österreichische Militärflüchtlinge als politische Flüchtlinge anerkannt und aus den Internierungslagern entlassen wurden. Das Exilland prägte den späteren Bundeskanzler — Zitat Kreisky: „Schweden war für mich das große Erlebnis einer funktionierenden und lebendigen Demokratie.“ - und damit nach der Rückkehr das Land, das beginnend mit dem Februar 1934 seine politisch und/oder „rassisch“ nicht opportunen Töchter und Söhne vertrieben hatte. Helene Belndorfer Irene Nawrocka (Hg.): Im Exil in Schweden. Österreichische Erfahrungen und Perspektiven in den 1930er und 1940er Jahren (Buchreihe der Österreichischen Gesellschaft für Exilforschung, hg. von Fritz Hausjell, Konstantin Kaiser, Sandra Wiesinger-Stock, Ba. 3). Wien: Mandelbaum 2013. 307 S. Euro 24,90 Anmerkungen 1 Erstmals veröffentlicht wurde der Text in: Erinnerungen an Schweden. Österreicher in Schweden — Schweden in Österreich 1938 — 1945 (Schweden Österreich, 11.Jg., H.2, 1988). Otto Binder publizierte 1997 seine Autobiographie: Otto Binder, Wien — retour: Bericht an die Nachkommen, Wien-Köln-Weimar 1997. 2 Lennart Weiss, In Wien kann man zwar nicht leben, aber anderswo kann man nicht le b en. Kontinuität und Veränderung bei Raoul Auernheimer (Acta Universitatis Upsaliensis Studia Germanistica Upsaliensia 54), Uppsala 2010. 3 Die Aufzeichnungen sind bisher unveröffentlicht. Der Sohn nimmt aber laut eigener Aussage in einem seiner Bücher häufig Bezug darauf: Tomas Böhm, The Wiener Jazz Trio. Roman, Wien 2000. 4 Ludwig Popper, Bolivien für Gringos. Exil-Tagebuch eines Wiener Arztes, Oberwart 2005. 5 15 Jahre nach der Einleitung des Habilitationsverfahrens im Jänner 1933 wurde Ludwig Popper 1948 Universitätsdozent für Interne Medizin und 1963 zum tit. a.o. Universitätsprofessor ernannt. http://www.lutzpopper.at/index.php?id=30 6 Irene Nawrockas Tagungsbeitrag über „Deutschsprachige Exilautoren und der Bermann-Fischer Verlag in Stockholm“ basiert auf ihrem Buch: Verlagssitz: Wien, Stockholm, New York, Amsterdam. Der Bermann-Fischer Verlag im Exil (1933 — 1950). Ein Abschnitt aus der Geschichte des S. Fischer Verlages. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens, Bd. 53, 2000.