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dem Hintergrund autoritären Erziehungswesens -, die Besetzung — eine Frau führt Regie, es spielt ein ausschließlich weibliches Ensemble — und die Bedingungen der Entstehung — die herannahende Katastrophe des Nationalsozialismus — vermag der Film auch heute noch zu interessieren. (Der Film ist übrigens in voller Länge auf YouTube zu sehen.) Sagans so erfolgreich begonnene Karriere als Filmregisseurin fand allerdings in Deutschland keine Fortsetzung; 1932 ging sie, einem Angebot Alexander Kordas folgend, nach London. Die scharfe Beobachtungsgabe, mit der sie die Theaterverhältnisse und sozialen Bedingungen der Nachkriegszeit in Deutschland und Österreich beschreibt, verliert sich jedoch, wenn es um die Charakterisierung berühmter Kollegen geht. Hier bedient sich Sagan eines „Blut und Boden“-Vokabulars, anscheinend ohne den Zusammenhang zu der Ideologie und Phraseologie der von ihr stets abgelehnten Nationalsozialisten zu erkennen. Das mag einer gewissen ideologischen Unbedarftheit der Autorin in jenen Tagen geschuldet sein, aber es verwundert doch, dass sich diese, vermutlich den persönlichen Aufzeichnungen entnommenen, Formulierungen anscheinend unverändert in der Autobiographie finden, wobei auch die sprachlichen Nachwirkungen des Expressionismus erkennbar sind: „Lucie Höflich spielte in ihrer Jugend Goethes Gretchen, wie es nur auf deutschem Boden blühen kann. (...) Ihr ‚Weibsteufel‘, ihre ‚Rose Bernd‘ waren das gerade Gegenteil vom Gretchen, aber Saft und Kraft wuchsen aus dem gleichen Boden: der deutschen Erde.“ Oder: „(...) das ewige Ideal des deutschen Bürgers, stellte die Münchnerin Käthe Dorsch dar. Legitim in ihrer gesunden Sinnlichkeit (...) führte sie zurück zur Licht und Schatten. Berlin: Hentrich & Hentrich: 2010) 72 ZWISCHENWELT Natur, zum Glauben an die ‚deutsche Frau‘, in einer Zeit, die stark nach der Bordellatmosphäre der Inflation roch. Neben diesen (...) Idealtypen des deutschen Volkes standen die Mischrassen, die Österreicherinnen, die Jüdinnen. Königin aller: Fritzi Massary.“ Irritierend ist auch, wie der begeisterte Rückblick Sagans auf ihr Schauspielerinnenleben in Versöhnlichkeit mündet: „Mein Weltbild war immer mehr ein ästhetisches als ein reales. Duft und Farbe galten mir mehr als die Dinge an sich. Eine zeitlang wurde dieser Duft allerdings zum Gestank und die Farbe zum Geschmier, aber ich bin froh, dass ich heute imstande bin, mein vergangenes Leben in Deutschland im Spiegel meines Berufs zu sehen, des Theaters, das die Dinge abrückt von der Wirklichkeit und sie in eine höhere Sphäre versetzt. Im Theater gibt es eine Art Freimaurertum. Viele meiner früheren Kollegen mögen Nazis geworden sein, aber ich weiß, das sie vor allem Schauspieler sind, und darum bleiben sie auch in meiner Erinnerung vor allem Schauspieler.“ So vermag Sagan in ihren Reminiszenzen an Werner Krauß sich ausschließlich an seine Stimme zu erinnern und erwähnt mit keinem Wort, wofür und für wen er diese Stimme erhob. In London, wohin auch ihr Mann inzwischen geflohen war, drehte sie für Korda den im Oxford-Milieu spielenden Film „Men of Tomorrow“, der kein Erfolg wurde: „Ich ahnte, dass es beim Film für mich kein Später geben würde.“ Ihr Londoner Bühnendebüt gab sie am Duchess Theatre mit „Children in Uniform“, der englischen Version von „Gestern und Heute“. Eine Gastspielreise nach Südafrika, Universitätstheater in Oxford, ein unproduktiver, wenngleich komfortabler Aufenthalt in Hollywood folgten. Und es begann eine bis 1945 dauernde, intensive Zusammenarbeit mit dem Operettenkomponisten, Autor und Schauspieler Ivor Novello; Sagan wurde die erste Frau, die am traditionsreichen Londoner Drury Lane Theater Regie führte. 1939 inszenierte sie Novellos „Dancing Years“, eine musikalische Revue, die von der Rahmenhandlung um | einen fiktiven jiidischen Komponisten und seinem Schicksal im Nazi-Wien ausgehend eine nostalgische musikalische Zeitreise in das alte Wien unternimmt. Starke Zweifel an der Sinnhaf| tigkeit ihres Berufes liefSen sie im April 1939 eine Einladung nach Siidafrika annehmen, um fiir ein Studententheater zu arbeiten — wegen des Kriegsausbruchs wurden aus dem geplanten Kurzaufenthalt vier Jahre. Ihre Schilderungen über Südafrika sind interessant und lebendig, obwohl sie die ‚Rassentrennung‘ nur indirekt anspricht, die Armut und mangelnde Schulbildung der schwarzen Bevölkerung zwar erwähnt, aber mit deren zivilisatorischer Rückständigkeit und nicht mit den politischen Verhältnissen begründet. Für ein Jahr gab sie Unterricht am „Jan Hofmeyr Collegue for Bantus“, begeistert schildert sie ihre Erfahrungen im Unterricht mit ihren schwarzen Schülern, die zuvor keinen Kontakt zu europäischer Literatur und Theater hatten: ,,... es war ein Zuriicktauchen in jene Jahre, da einem die Dichter und das Theater eine neue Welt erschlossen hatten.“ Mit ihrem wieder gefundenen Glauben an ein Theater, das imstande sei, den Menschen Wahres und Wichtiges über die Welt zu erzählen, enden die Aufzeichnungen. Nach Kriegsende arbeitete Leontine Sagan wieder in England, inszenierte in Australien, erwarb sich als Mitglied des National Theatre Organisation Board (NTO) große Verdienste um das Iheater in Südafrika, wo sie sich 1947 mit ihrem Mann, der 1951 verstarb, endgültig niedergelassen hatte und bis 1963 weiterhin als Regisseurin und Schauspielerin tätig war. Leontine Sagan starb 1974 in Pretoria. Dieses Buch enthält nicht nur eine interessante Lebensgeschichte, die das kaiserliche Wien, die Weimarer Republik, das Theater und Filmleben in Großbritannien und den USA sowie ein naturverbundenes und nicht nur kulturell pionierhaftes Leben in Südafrika umfasst, sondern ist auch ein rares Dokument: Hier erhebt sie als eine der wenigen Frauen, die bereits in den 1920er Jahren nicht nur als Schauspielerin, sondern auch als Regisseurin und Lehrerin tätig war, ihre Stimme und reflektiert selbstbewusst über ihr Leben, über das Theater, wobei sie sich dabei nicht auf die Rolle der Ausführenden beschränkt und wie selbstverständlich in Anspruch nimmt, einen theoretischen Zugang zu suchen. Doch die Beschreibung eines Theaterlebens, das hier in seiner ganzen Fülle und Abwechslung vor uns ausgebreitet wird, ermüdet manchmal durch die schier endlose Aufzählung von Produktionen, Premieren und Rollen, trotz des lebhaften Tons, der dem Genre der Theaterautobiographie eigen ist. Informativ ist das Vorwort von Wolfgang Jacobsen, dem es in seiner kurzen Einleitung gelingt, die Person Leontine Sagan und ihre Autobiographie in ihrer Besonderheit darzustellen. Der Herausgeber Michael Eckhardt widmet sich in seinem Nachwort ausführlich der Rezeptionsgeschichte des Films „Mädchen in Uniform“; und so endet das Buch, das doch so viel Unbekanntes zu Tage förderte, wieder beim Bekannten. Ulrike Oedl Leontine Sagan: Licht und Schatten. Schauspielerin und Regisseurin auf vier Kontinenten. Hg. und kommentiert von Michael Eckhart. Mit einem Vorwort von Wolfgang Jacobsen. Berlin: Hentrich & Hentrich 2010. 360 5. 24,80 _(„Jüdische Memoiren“. Hg. von Hermann Simon. Bd. 16).