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Robert Neumann, einer der vielseitigsten und interessantesten österreichischen Exilautoren, wird mit Ausnahme von „Die Kinder von Wien“ wohl kaum mehr gelesen, ist aber von der Forschung nicht ganz vergessen. Nach der Publikation einer Biographie von Hans Wagener und eines von Anne Maximiliane Jäger herausgegebenen Sammelbandes (2007) erschien nun ein von dem Wiener Literaturwissenschaftler Franz Stadler herausgegebener umfangreicher Band, der auf einem von Karl Müller betreuten Projekt beruht. Er enthält nach einer Einleitung des Herausgebers eine Auswahl von Neumanns publizistischen Texten, Dokumente aus dem Nachlass, Manuskripte der BBC-Sendungen während des Krieges („An Austrian to Austrians“) und viele berufliche und private Briefe und Gegenbriefe. Stadler hat die Texte umsichtig kommentiert und annotiert, und es gibt viel Bemerkenswertes, nicht nur über Neumann, zu entdecken. Robert Neumann wuchs in Wien als Sohn zweier jüdischer Zuwanderer auf. Sein Vater Samuel war ein engagierter Sozialdemokrat und Direktor-Stellvertreter des Österreichischen Kreditinstituts für Verkehrsunternehmungen. Bevor sich Neumann dem Schreiben zuwandte, arbeitete er für das Bankhaus Gartenberg & Co und für ein großes Lebensmittelgeschäft. Mit ersten Kontakten zu Verlagen und Zeitschriften in Berlin half ihm der deutschnationale, in der Zwischenkriegszeit in Wien lebende Schriftsteller Ernst Lissauer. Als 1962 das New Yorker Leo Baeck Institut, in dem sich Lissauers Nachlass befindet, Neumann die Herausgabe der Tagebücher antrug, musste er wegen der tragischen Absurdität der Position seines verstorbenen Freundes und Entdeckers, dem er gerne die Treue bewahrt hätte, absagen. Ganz vergessen ist Lissauer dennoch nicht, wie eine 2002 von Elisabeth Albanis publizierte Studie über ihn zeigt. Lissauer vermittelte Neumann 1927 auch eine Stelle als Korrespondent der „CV-Zeitung“ für „deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens“ in Berlin. Mit Erfolg erbat er für die Zeitung einen autobiographischen Beitrag von Stefan Zweig, während Arthur Schnitzler es ablehnte, einen Aufsatz über Deutschtum und Judentum zu schreiben. 1934 emigrierte Neumann nach London, wohin sich 1938 auch seine Mutter und seine jüngere Schwester retten konnten. Ab 1939 organisierte er in London den österreichischen PEN-Club im Exil, dem Franz Werfel als Präsident vorstand. In dieser Funktion konnte er im Verein mit Franz Kobler und Leon Schalit als Sekretär bzw. Kassier vielen Autoren konkrete Hilfestellungen anbieten, wobei er weder auf subjektive Vorlieben noch auf literarische Kriterien Rücksicht nahm, sondern nur auf die Not der Zeit reagierte, wie in dem Band nachlesbar ist. Hervorzuheben sind auch Neumanns Erinnerungen an Hermann Broch und ein langer Brief Theodor Kramers aus dessen letzter Lebenszeit. Mit den restaurativen Tendenzen der Bundesrepublik setzte er sich in dem Roman „Der Tatbestand“ auseinander, und mit der NSVergangenheit von Bundespräsident Heinrich Lübke befasste er sich in einem ausführlichen Artikel in der Zeitschrift „konkret“. Dies obwohl er außer in seinem letzten halben Jahr 1974/75 nie in Deutschland lebte, sondern 1958 aus England in die Schweiz zog. 1966 korrespondierte Neumann mit Philippe Halsmann, da er für den WDR an einem 1968 ausgestrahlten Fernsehspiel über den Fall Halsmann arbeitete. Regie führte Otto Tausig. (Über den Fall Halsmann informiert heute am besten Martin Pollacks Buch „Anklage Vatermord“, 2002). Agenda Menschenrechte — als ich den Titel erstmals hörte, stellte ich mir eines von diesen gewichtigen Büchern mit schwer lesbarem Inhalt vor. Umso überraschter war ich, dass das Rezensionsexemplar, das mir zugeschickt wurde, in einem Briefumschlag Platz fand, über gerade einmal hundert Seiten verfügte und der Großteil davon leer war. Das Buch enthält Notizen in Form kleiner Geschichten, Gedanken und kurzer Zitate. Entstanden sind diese Notizen im Rahmen von Josef Mautners Menschrechtsarbeit bei der „Plattform für Menschenrechte“. Die Salzburger „Plattform für Menschenrechte“ istein Zusammenschluss von sozialen, kulturellen, kirchlichen und politischen Organisationen. Gegründet wurde sie 1999 als Reaktion auf den zunehmenden Einfluss der FPÖ und aus der Befürchtung heraus, dass sich die Situation für Asylsuchende und MigrantInnen in Österreich dadurch weiter erschweren würde und deren Grundrechte gefährdet seien. Die Plattform setzt sich für die unbedingte und unteilbare Geltung der Menschenrechte auf politischer und gesellschaftlicher Ebene ein. Wenn immer von Menschenrechtsverletzungen die Rede ist, denke ich an Gegenden, die sehr weit weg sind, an Lander, in denen Gewalt herrscht und wo der Gedanke der Humanität inmitten unmenschlicher Bedingungen keinen Platz findet. Tatsächlich aber ist die „Plattform“ in Salzburg tätig und nimmt sich derjenigen an, deren Menschenrechte hier missachtet werden. Salzburg ist meine Heimatstadt. Wenn ich dort bin, gehe ich gerne auf den Kapuzinerberg und sehe hinunter auf die Altstadt, den Dom, die Kollegienkirche, die Fassaden der Häuser am Rudolfskai. Mir ist nachvollziehbar, warum Touristen von weit her gereist kommen, um In dem Roman „An den Wassern von Babylon“ (1954) entfaltete Neumann ein Panorama der jüdischen Diaspora. Begleitende Korrespondenzen zu diesem Buch finden sich jedoch nicht im vorliegenden Buch. In allen publizistischen Stellungnahmen zum ’Ihema Judentum, wie in dem bei Stadler in gekürzter Fassung abgedruckten Essay „Jude in Deutschland“, zeigt sich Distanz sowohl zum Zionismus, als auch zum bundesdeutschen Philosemitismus. Neumanns polemisches Talent erreichte in einer Rezension des deutschnationalen Professors für Religionsund Geistesgeschichte Hans-Joachim Schoeps in der inzwischen eingestellten Zeitschrift „Iribüne“ einen Höhepunkt. Neumanns Kritik an Hans Habe führte zu einem Zerwürfnis mit seinem Verleger Kurt Desch. Von Ausnahmen abgesehen, stand Neumann trotz seiner bissigen literarischen Parodien in den zwei Bänden „Unter falscher Flagge“ (1932) und „Mit fremden Federn“ (1955) mit vielen bedeutenden Autoren in Verbindung, zum Beispiel mit Arnold Zweig. Auch mit Friedrich Torberg blieb er in freundschaftlichem Kontakt, obwohl er die „politische Verhetztheit und Verbitterung“ in Wien beklagte. Mit Elisabeth Freundlich korrespondierte er aus Anlass ihres Beitrags zu einer Festschrift zu Neumanns 60.Geburtstag. — Es ist ein mit der Chronik, der Bibliographie und dem Register im Anhang schr benutzerfreundliches, wenn auch nicht handliches Buch. E.A. Franz Stadler (Hg.): Robert Neumann. Mit eigener Feder. Aufsätze. Briefe. Nachlassmaterialien. Innsbruck, Wien, Bozen: Studien Verlag 2013. 925 S. Euro 49,90 diese Stadt zu sehen. Ich möchte verdrängen, dass in dieser Stadt Menschenrechtsverletzungen stattfinden. Ich kenne die Stellungnahmen von Amnesty International zum österreichischen Asyl- und Fremdenrecht, die rechtspopulistischen Wahlkampfkampagnen und war selbst schon Zeugin rassistischer Äußerungen. Nichtsdestotrotz, bezweifle ich, dass mir das volle Ausmaß der Menschenrechtsvergehen und der Diskriminierung in diesem Land bewusst ist, und ich denke, dass das unter anderem daran liegt, dass mir eine Dimension fehlt um dieses volle Ausmaß zu begreifen: die Erfahrungen der Betroffenen. Josef Mautners „Agenda Menschenrechte“ widmet sich diesen Erfahrungen. Man findet in seinem Buch keine Statistiken, keine Paragraphen österreichischen Asylrechts, anstelle dessen wird in kleinen Randnotizen die Erfahrungswelt Mai 2014 73