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„Mutter, wir kommen aus einem Land ohne Liebe/ wo auch Gott nicht ist ... “ Es sind die Verse aus Uri-Zwi Grinbergs Gedicht „Die Welt am Abgrund“, hier zitiert nach der deutschen Übersetzung, S. 18, die den Originaltitel des Buches, „Von einem Land ohne Liebe“, angeregt haben. Was vermag jedoch eine hoch betagte jüdische Dame polnischer Herkunft mit einem 30 Jahre jungen Mann aus Paris verbinden? In Gilles Roziers Roman ist es die besondere Liebe zur jiddischen Sprache, welche die Lebenslinien Sulamita Kacyzne-Reales, Tochter des Warschauer Fotografen und Autors Alter Kacyznes und einzige Shoah-Überlebende ihrer Familie, mit jenen des jungen Pariser Bankiers Pierre zusammenführt. Aus dem römischen Palazzo ihres verstorbenen Diplomaten-Gatten schreibt Sulamita Briefe an Pierre, die von der in Asche versunkenen jiddischen Lebenswelt der galizischen Schtetln, den jiddischen Literatenkreisen in Wien, Berlin, Lemberg und Warschau erzählen und drei herausragenden Dichtern dieser Sprache ein würdiges Denkmal setzen: Uri-Zwi Grinberg (1896 - 1981), Perez Markisch (1895 — 1952) und Melech Rawicz (1893 — 1976). Ohne es sich selbst erklären zu können, berühren Sulamitas Briefe Pierre in seinem Existenzgefühl, im Tod geboren worden zu sein, das Leben in einer Art Exil zu führen. Er, der Großeltern, Eltern und den innigsten Freund durch Krebs bzw. AIDS verlor, sich von allem Lebendigen abgeschnitten fühlt, erfährt ausgerechnet im Kontakt zur Jiddischkeit eine innere Wiederbelebung. Den drei befreundeten Dichtern fühlt er sich über alle zeitlichen Grenzen hinweg zugehörig. Sulamita, die „Im Palast der Erinnerung“, so der Titel der deutschen Übersetzung des Romans, lebt, hat es sich zum Auftrag gemacht, das Leben des in Tarnopol von ukrainischen Nazi-Kollaborateuren ermordeten Vaters weiterzuführen. Indem sie jahrzehntelang Dokumente, Zeugnisse der Ermordeten sowie an die 500 Erinnerungsbücher aus Schtetln in ganz Europa gesucht, gesammelt und im letzten Stockwerk des Palastes aufbewahrt hat, will sie ihren Vater dem endgültigen Tod durch das Vergessen entreißen. „Les morts gouvernent aux vivants“ („Die Toten herrschen über die Lebenden“) schreibt sie (S. 179) in einem der Briefe an Pierre. Vor der Shoah war Jiddisch die Lebenssprache von bis zu elf Millionen europäischer Juden und Jüdinnen. Sulamitas Briefe rufen der Nachwelt in Erinnerung: Auf Jiddisch und nicht in den „languel[s] de PAutre“ (S. 141), den Sprachen der Mehrheit — Französisch, Deutsch, Polnisch —, welche die Zuneigung der Menschen grausam verraten, sie in einen existenziellen Sprach- und Identitätskonflikt gestürzt hatten, legten viele Opfer und Überlebende Zeugnis ab. Nur eine knappe gemeinsame Zeit Anfang der 1920er-Jahre ist den drei befreundeten Mitgliedern der jiddischen Schriftstellergruppe Khaliastra in Warschau gegönnt, ehe sie durch die Katastrophen ihres Jahrhunderts getrennt werden: Der kopflastige Melech, der eine leidenschaftliche Liebesbeziehung zur großen Lyrikerin Rochl Korn führt und dessen Reisen um den Globus während des Krieges zur Irrfahrt im Exil ausarten, bis er schließlich in Montreal landet; der als betörend schön beschriebene Perez, den es in die Sowjetunion verschlägt, wo er als Lenin-Preisträger für Poesie 1952 dem stalinistischen Terror zum Opfer fällt und mit anderen jiddischen Autoren und Mitgliedern des Jüdischen Antifaschistischen Komitees hingerichtet wird; der einer chassidischen Rabbinerfamilie entstammende Uri-Zwi, der in den 1930er-Jahren in Berlin Freundschaft mit Else Lasker-Schüler schließt, sich vom zionistischen Traum beseelt nach Palästina aufmacht, vor und nach der Staatsgründung Israels einem extremen Nationalismus anhängt und seinem gewalttätigen Nationalstolz in seinen Gedichten Ausdruck verleiht. Die Freundschaft der beiden Überlebenden Melech und Uri-Zwi zerbricht schließlich am Grundsatzkonflikt zwischen des einen Glauben an ein jüdisches Polen in der Diaspora und des anderen Vision von einem jüdischen Nationalstaat in Palästina. Ihre in Varshe geschaffene Poesie jedoch entstand im gemeinsamen Glauben an die nicht versiegende Quelle des Jiddischen; in seiner Vielfalt und Internationalität bildete das Jiddische für sie den Gegenpol zur ausge- und erschöpften deutschen Sprache, in der bereits alles gesagt worden schien. Die konservative Literaturkritik Warschaus empfand ihre Texte als skandalös, empörte sie doch besonders die Kombination innovativer literarischer Formen mit traditionellen Aspekten jüdischen Lebens. D’un pays sans amour veranschaulicht die Bedeutung von Literatur als einem Ort der Bewahrung von Erinnerungen, in den sich Spuren der Ermordeten durch die Vernichtung hindurch und über sie hinaus eingeschrieben haben. In einer Periode, in der sich mit dem Versterben der letzten ZeitzeugInnen ein Paradigmenwechsel in der Erinnerungskultur abzeichnet, kann man das Verdienst von Gilles Roziers Roman nicht hoch genug einschätzen. Judith Aistleitner Gilles Rozier: D’un pays sans amour. Roman. Paris: Bernard Grasset 2011. S. 443 Euro 21,50 Gilles Rozier: Im Palast der Erinnerung. Roman. Aus dem Französischen von Claudia Steinitz und Barbara Heber-Schärer; | aus dem Jiddischen von Nici Graca und Esther Alexander-Ihme; aus dem Hebräischen von Ruth Melcer. Berlin: Die Andere Bibliothek 2012. 435 S. Euro 39,10 Mai 2014 75