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Alexander Melach Was braucht Mandelbaum? Fragment aus einem nicht gedrehten Dokumentarfilm „Was wollen Sie fragen“, fragt Henryk Mandelbaum und mustert mich prüfend mit hellblauen Augen. „Ich habe nicht viel Zeit, ich muss sparen, mit Zeit, verstehen Sie?“ Ich schreibe diese Geschichte nun auf Papier nieder, anstatt nochmals zu Henryk Mandelbaum nach Gliwice in Polen zu fahren, um sie dort auf Film oder auf Video in der Art zu dokumentieren, wie ich das anfangs wollte. Ich schreibe diese Geschichte wenigstens auf die Rückseite verworfener Manuskripte, auf Makulatur, in Gedanken an Henryk Mandelbaum, aus dessen Mund ich zuletzt dieses Wort gehört habe: „Makulatur... Makulatur, verstehen Sie!“ Ich löse mich von den hellblauen Augen und schaue auf den roten Mund, ein paar kostbare Augenblicke lang, nur auf den roten, trockenen Mund, der halb geöffnet ist und wartet, ob ich verstanden habe - ein paar kostbare Augenblicke lang habe ich nicht zugehört. Das Wort „Makulatur“ schwingt in der Luft. „Makulatur“, sage ich, „natürlich verstehe ich das!“ — „Ja“, sagt der alte Mann, „Sie verstehen. Ich habe Makulatur gesammelt, als Kind, und verkauft. Schon mit zehn Jahren habe ich schwer gearbeitet. Von dem Geld habe ich meinen ersten Bären gekauft, von meiner Sammlung. Ich habe immer viel gearbeitet, zuerst die Makulatur, dann eine Druckerei, ein Taxiunternehmen, Silberfüchse gezüchtet...“, Henryk Mandelbaums Sprache hat sich zu einem Singsang entwickelt, „und auch jetzt habe ich viel Arbeit, aber jeden vierten Tag kommen Journalisten, kommen Redakteure, und alle wollen, dass ich ihnen erzähle.“ Henryk Mandelbaum beugt sich vor und senkt die Stimme: „Aber ich habe nicht Zeit, verstehen Sie?“ Henryk Mandelbaum rollt im Stehen ein graues Filmplakat aus, auf dem er selbst zu schen ist, ebenfalls stehend, in der gleichen Haltung, nur kleiner, neben polnischen Schriftzeichen. „Von uns gibt es noch vier, die leben auf der ganzen Welt, einer ist in Kanada, einer lebt in Rom, aber die reden nicht...“ Henryk Mandelbaum rollt das Filmplakat und damit auch sein kleines Ebenbild ein, „niemals haben die davon gesprochen, nur einmal, für diesen Film, vorher nicht, und nachher nicht, immer geschwiegen. Ich bin der einzige, der immer redet - aber ich habe nicht Zeit, ich habe nicht Zeit, verstehen Sie, ich habe Arbeit, viel Arbeit, ich müsste mich in zwei Hälften schneiden, ich bin wie ein Gast in meinem eigenen Haus, und die alle kommen sic hier, und sitzen sie hier, in meinem Diwan, und alle stellen Fragen, und dann fahren sie nach Mallorca, und der Mandelbaum sitzt in Gliwice. Und niemand fragt: Was braucht Mandelbaum?“ — „Was braucht Mandelbaum?“ frage ich. „Setzen Sie sich bitte“, sagt Mandelbaum. Ich setze mich, er bleibt stehen: „Ich bin schon genug gesitzt“, die hellblauen Augen verengen sich, auf dem Mund sitzt der Keim eines Lächelns, „... gesitzt, verstehen Sie...“ — „Ja“, sage ich. „Im Lager, nicht?“ „No“, sagt er und nickt. „Was braucht Mandelbaum?“ frage ich nochmals. „Mandelbaum braucht Zeit“, sagt Mandelbaum, „ich habe viel Arbeit hier“. „Was für Arbeit“ — „Zum Beispiel mein Garten“, sagt Mandelbaum, „der ist wichüg...“ „Nehmen Sie mich in Ihren Garten!“ „Hier waren früher Obstbäume,“ sagt Henryk Mandelbaum. Er artikuliert sanft und lockend: „Firsiche, Apfeln, Flaumen...“ Sein Gesicht lächelt so nah an meinem, dass ich seinen Atem an der Wange spüre. „Wo sind die jetzt?“ „Niemand wollte sie haben, es waren zu viele, viel Arbeit, ich habe keine Zeit!“ „Wo sind die Bäume“ — „Ich habe sie weggeschnitten...“ Tujen stehen stattdessen nun in Reih und Glied im Nachen Garten hinter dem Haus, der die Form eines Rechtecks hat. Auf einer Seite ist die Tujenreihe unvollständig. In Töpfen auf dem Weg stehen in einer Geraden ausgerichtet vier weitere junge Tujen. „Die setze ich noch ein“, sagt Mandelbaum und schneidet mit der Handkante Scheiben in die blaue Winterluft. „So muss es sein, in der Reihe, dann ist Ordnung! Aber die kann ich nicht einsetzen, weil noch Frost kommt, verstehen Sie?“ Er weist auf einen großen Stoß von Plastik-Limonadeflaschen, in der Anordnung sauber gestapelter Holzscheite. Die Flaschen sind mit gelblicher Flüssigkeit gefüllt. „Das ist aufgespartes Wasser“, sagt Mandelbaum. „Damit gieße ich die Blumen und Bäume in meinem Garten. Ich verwende keine Seife, wenn ich Hände wasche oder Zähne putze... und das gesamte Wasser spare ich hier auf, das ist gut...“ — „Soll ich die Blumen und die Bäume jetzt damit gießen?“, frage ich. — „Nein“, sagt Mandelbaum, „jetzt nicht, kommen Sie ins Haus, meine Frau hat Kaffee gemacht.“ Frau Mandelbaum steht in der Küchentür und strahlt mich an. „Na!“ sagt sie und tätschelt meine Wange. „Alle paar Tage kommen Journalisten aus der ganzen Welt, und da erzählt er, wieder und wieder, und in der Nacht liegt er in seinem Bett, daim Wohnzimmer schläft er, und dann schreit er, vor Angst, weil durch das, was die Journalisten ihn fragen, hat er das alles wieder hervorgeholt, das alles steigt dann in der Nacht bei ihm hoch, und er schreit...“ „Ich bin kein Journalist und kein Redakteur. Ich will nur wissen, wofür er seine Zeit spart, welche Arbeit er heute wichtig findet, das andere hat er oft genug erzählt“, sage ich, „und ich kann es nachlesen oder den Film ansehen...“ „saugen Sie nur aus ihm raus, was geht, er hat nicht mehr viel Zeit“, sagt Frau Mandelbaum. „Er ist schon fast neunzig“. Frau Mandelbaum neigt sich näher: „Und er hat noch nicht alles erzählt!“ Henryk Mandelbaum kommt in die Küche. „Warum haben Sie am Telefon vorgeschlagen, dass wir uns in Auschwitz treffen könnten?“, frage ich, während Henryk August 2014. 7