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immerhin konnte er seinen Eltern die Einreise nach England ermöglichen. Sie waren alle im Austrian Centre aktiv, eine Emigranteninstitution, die ein Mini-Österreich im fremden Land war. Und, nicht zu vergessen — und recht wichtig für mich - er traf dort seine Frau, meine Mutter. 1946 Rückkehr nach Wien, dieses Mal war es wohl ein freiwilliger Umzug, gehört also nicht auf meine Liste der Emigrationen, er spielte ja sogar lange mit dem Gedanken in London zu bleiben. Vielleicht war allerdings auch dieser Umzug nicht ganz freiwillig, denn es wurde, soviel ich weiß, Mitgliedern der KPÖ von der Parteiführung nahegelegt, zurück in die Heimat zu gehen, um beim Wiederaufbau zu helfen. Und wieder fand er keine guten Arbeitsmöglichkeiten vor, also kam es nach wenigen Jahren zur fünften Emigration; dieses Mal nach Ostberlin, wo es viel zu tun gab. Er machte sich keine Illusionen über die Zustände in dieser zerstörten Stadt voller zerstörter Menschen. So schrieb er seinem engen Freund, dem Komponisten Ernst Herrmann Meyer, den er vor dem Krieg im Umfeld von Brecht und Eisler kennengelernt hatte und dann in London wiedertraf, und der 1947 aus England nach Berlin zurückkehren wollte, mit seiner englischen Frau, und das ausgerechnet im Winter: Wenn Ihr statt im November im März nach Deutschland geht, so wird das für Euren Start dort einen unerhörten Unterschied ausmachen. Ihr werdet einige Monate vor Euch haben, in denen Ihr Euch um eine Wohnung, um Heizmaterial, um Möbel umsehen könnt, ohne in der Zwischenzeit zu frieren und zu hungern. Jetzt aber in Berlin anzukommen muss wirklich und wahrhaftig grauenhaft sein. Ich bin gegen Heroismus. It doesn't pay. Die Situation in Deutschland ist so, dass Ihr noch jahrelang Zeit haben werdet, gute, wichtige und vor allem schwere Arbeit zu leisten. Verzeiht mir, meine Lieben, dass ich mit ganz un-georgischer Energie so viel von diesem Thema schreibe. Es liegt mir wirklich sehr am Herzen, Euch von diesem schlechtberatenen Schritt abzuhalten. Verbringt den Winter in Praha. Geht das nicht? Oder in London, wenn es anders nicht geht. Aber fahrt nicht jetzt in das Land der Barbaren. Man kann sie ertragen und man kann mit ihnen arbeiten — ich spreche aus meiner eigenen Erfahrung — wenn man selbst halbwegs stabilisiert ist. SONST NICHT. Aber auch in der DDR gingen die Probleme weiter. Wir saßen gleichsam konstant auf unseren Koffern, nachdem wir Ende 1949 in Ostberlin angekommen waren — meine Eltern wagten es nicht, sich allzu sicher zu fühlen. Der erste Arbeitsvertrag galt ohnehin nur für ein Jahr, und ich weiß nicht, wer wann beschlossen hat, dass wir länger bleiben sollten und könnten, und wann mein Vater die Berufung angenommen hat, der erste Direktor der Musikhochschule zu werden, die er innerhalb dieses Jahres aufgebaut und gegründet hatte. Seine Stellung war durchaus nicht sicher, immer wieder gab es Kampagnen, Intrigen, Gerüchte, und er musste sich regelmäßig vor der Partei und dem Ministerium verantworten, verteidigen, seinen Werdegang, seine Kontakte im Westen genau beschreiben, um sich vor Verdächtigungen aller Art zu schützen. Ich kann hier nicht näher auf Läszlö Rajk eingehen, den ungarischen Kommunisten und Minister, der im selben Monat, da wir in Berlin ankamen, in Budapest nach einem Schauprozess hingerichtet wurde, oder auf Noel Field, den angeblichen USSpion, oder auf Rudolf Slänsky, der Ende ‚52 in Prag erhängt wurde, zusammen mitanderen zumeist jüdischen Kommunisten. All diese schrecklichen Affären hatten sofortige — und besorgniserregende — Auswirkungen auf das Schicksal jüdischer Genossen in den sozialistischen Ländern, und besonders auf jene, die in Spanien gekämpft hatten, wie Rajk, oder im westlichen Exil gewesen waren. 1953 fragte sein Freund Ernst Herrmann Meyer, den ich schon erwähnte, verzweifelt ob sie etwa schon wieder emigrieren müssten. Viele Jahre später, nach dem kläglichen Zusammenbruch der DDR, wurde mein Vater wieder schr nervös, besorgt. Er vernichtete einen Teil seiner Korrespondenz, erwartete Repressalien und spielte erneut mit dem Gedanken an Emigration. Vielleicht Wien, oder wieder London? 44 Jahre nach seiner Abreise schien es ihm wieder der sicherste Ort (und schließlich war ich ja auch dort, und seine Enkelin). Wir führten lange Telefongespräche, schmiedeten Pläne, erwogen alle nur denkbaren Vor- und Nachteile. Aber er war inzwischen 83 Jahre alt und steckte mitten in seinem wichtigen Mozart-Buch, das ihm viel bedeutete, das Buch an dem er, so sagte er mir einmal, eigentlich sein ganzes Leben gearbeitet hatte. Seine große Bibliothek, die vielen Manuskripte, wie sollte man in London das Geeignete finden, das alles unterzubringen? Und schließlich besaßen meine Eltern keine harte Währung. Mein Vater rechnete sich aus, dass er durch den Umzug mindestens neun Monate verlieren würde, und das Mozartjubiläum, zu dem das Buch erscheinen sollte, fand 1991 statt. Kurzum, er entschied, in Berlin zu bleiben. Manchmal schienen mir seine Sorgen fast paranoid, seine Angst vor Neonazis und der westdeutschen Polizei. Andererseits hatte er ja vor fast 60 Jahren in derselben Stadt schon einmal eine extrem dramatische „Wende“ erlebt! Seine Freunde und er wussten nur zu gut, wie schr man bereit sein musste, im Notfall schnell zu verschwinden. Nie wieder benützte er öffentliche Verkehrsmittel, denn es gab neuerdings Überfälle auf Ausländer und Behinderte, also AndersAussehende. Er traf finanzielle Sparmaßnahmen, denn seine Pension wurde gekürzt, aber er schrieb und schrieb. Das war zwar nichts Neues, aber sein Augenlicht wurde nun immer schwächer und wir mussten immer neue Methoden finden, um ihm sein Schreiben zu ermöglichen. Immer stärkere Leuchten die genau platziert werden mussten, über seiner linken Schulter; dann lernte er - immerhin in seinen späten 80er Jahren - am Computer zu schreiben, weil man da die Fontgröße regulieren kann, und als auch das nicht mehr ging, benutzte er dicke rote Filzstifte und Schablonen — es wurde ein täglicher Kampf. Hat das Exil sein Leben dominiert? Soweit ich weiß, hat er das Exil nie thematisiert, und auch in Gesprächen nie dramatisiert, so wie viele andere es getan haben. Edward Said, der palästinensische in Amerika lebende Akademiker, z.B. schrieb, dass es unwiderstehlich sei, über das Exil nachzudenken, aber schrecklich, es zu durchleben. Es sei der unheilbare Riss zwischen einem Menschen und dessen Heimat, zwischen dem Selbst und dessen wahrem Zuhause; eine grundlegende Traurigkeit, die niemals überwunden werden könne. Und: Die Errungenschaften des Exils werden ständig untergraben von etwas, das für immer zurückgelassen wurde. Aber für Juden, in ihren Heimatländern ohnehin so etwas wie Außenseiter, ist es doch anders. George Steiner, Sohn Wiener August 2014 11