OCR
Eltern, in Paris geboren, dreisprachig aufgewachsen, nach seinen Wurzeln befragt, sagte: „Ein Baum hat Wurzeln, ich habe Beine, und das ist ein Vorteil.“ Adorno sprach „vom beschädigten Leben“, im Untertitel von Minima Moralia. Ich frage mich: Hat mein Vater in der DDR ein unbeschädigtes Leben führen können, ein gutes, nicht-entfremdetes Leben? Ich weiß nicht wirklich, wie die Antwort auf diese Frage lautet. Er hat weniger als ein Drittel seines langen Lebens in Wien verbracht, aber trotz dieser vielen Emigrationen blieb er Österreicher, oder vielleicht genauer gesagt: Wiener. Je älter er wurde, desto mehr. Obwohl seine Heimat ihn nicht wollte, kaum anerkannte. Aber vielleicht war das einer seiner Antriebe? Jedenfalls war die Kultur Wiens sein Leben lang eine seiner Hauptinteressen, und er schrieb wiederholt über Mahler, Mozart, Karl Kraus. Es interessierte ihn, dass viele der größten Errungenschaften der Wiener Kultur von angefeindeten Außenseitern stammten, darüber wollte er noch Genaueres schreiben, doch seine Zeit lief ihm davon. Es gibt zumindest zwei Gründe dafür, dass mein Vater als Österreicher in der DDR doch eine Art Zuhause fand: Erstens erkannte er seine politische Heimat in dem Projekt, beim Aufbau eines anti-faschistischen Deutschland mitzumachen. Vielleicht ist das heute kaum noch nachvollziehbar, aber in den 40er und 50er Jahren war das eine lebendige und nicht selbstverständliche Sache. Und willman die DDR verstehen, und die Beweggründe derer, die sich dorthin begaben, muss man das berücksichtigen. Zweitens war Ostberlin beruflich für ihn ungemein fruchtbar. Als Akademie-Mitglied und angesehener Intellektueller hatte er Zugang zu wichtigen und originellen marxistischen Denkern - im Buch wird das beschrieben. Veronika Pfolz Denn sein Projekt weitete sich ständig aus, er dachte über die Ursprünge der Musik nach, über die Rolle von Musik und Sprache bei der Menschwerdung, über den Klassencharakter von Musik und Musizieren, und wie sich populäre und ernste Musik zueinander verhalten und einander beeinflussen. Er diskutierte mit Verhaltensforschern, Kybernetikern, Philosophen, Archäologen, Zoologen, Ethnografen - ich glaube nicht, dass er in Wien in einem so intensiven kreativen Austausch mit Gesinnungsgenossen hätte stehen können. Es ist ihm gelungen, so etwas wie eine kreative Nische zu finden, wie Lars Fischer in einer interessanten (noch unveröffentlichten) Arbeit feststellt: . seine Arbeit führte Knepler zum Herzen dessen, was eine marxistische Musikwissenschaft brauchte, aber gleichzeitig verschob es seine Aktivitäten in eine Sphäre der Abstraktion, die ihn in großem Masse von den täglichen Launen ideologischer Streitigkeiten entfernte, denen er sicherlich mehr ausgesetzt worden wäre, hätte er z.B. seine Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts weitergeführt. (...) Es scheint, dass Knepler sich erfolgreich eine Nische geschaffen hatte, eine die allerdings weder privat noch quietistisch, zurückgezogen war ... Es gibt wohl auch einen dritten Grund: seine Familie. Ich glaube er war glücklich mit meiner Mutter, und er war ein guter Vater und mir ein immer interessanter und herausfordernder Freund. Und er war ein guter treuer Sohn - er hielt innigen Kontakt zu seinen Eltern und seinem Bruder, trotz geographischer und ideologischer Entfernung. Das alles bedeutete ihm viel, und in der DDR hatte er, nach den ersten schwierigen und aufregenden Jahren, eine geachtete und relativ sichere Position, und seine Freunde mochten das Wienerische an ihm. John Knepler, geb. 1947 in Wien, Schulbesuch in Ostberlin, studierte Architektur in Weimar und lebt als Architekt seit 1974 in London. Exilland Bolivien. Zu diesem fiir Osterreicher exotisch anmutenden Exilland haben mit Fritz Kalmar und Egon Schwarz prominente Betroffene publiziert und in jiingster Zeit Lutz Elija Popper und Leo Spitzer Arbeiten vorgelegt, die den Weg beziehungsweise die Flucht ihrer jeweiligen Familie aus Österreich und das Leben im Exil eindrucksvoll nachzeichnen.' Ausgangspunkt meiner Recherchen waren zwei Exlibris aus der Sammlung Weber-Wehle im Wienmuseum.? Für Felix und Olga Neurath bzw. Moritz von Gruenebaum 1910/11 geschaffen, weist eines davon auf der Rückseite einen Stempel auf: Dr. Felix Hochstimm. Ein promovierter Exlibriskünstler, zu dem in den einschlägigen Lexika kaum etwas zu finden ist, war Grund genug, Näheres erfahren zu wollen.” Ein Hinweis, daß der Ehemann der Schriftstellerin Mimi Grossberg bei Hochstimm in dessen Optikerwarenhandel angestellt war, ließ die Person noch komplexer erscheinen.‘ Im Staatsarchiv ist zu Hochstimm nur wenig erhalten; doch seinem Finanzakt (Verzeichnis über das Vermögen von Juden nach dem Stand vom 27. April 1938) sind Unterlagen aus den spätern 12 ZWISCHENWELT 1950er-Jahren beigefügt. Aus ihnen ist nicht nur zu entnehmen, daß Hochstimm die Flucht aus Österreich gelungen war, sondern auch, daß er nach mehreren Jahren in Bolivien nach Argentinien übersiedelt war. Über die Österreichische Botschaft in Buenos Aires gelang es, Kontakt zur jüngeren der beiden Töchter Hochstimms aufzunehmen.’ Ihre Angaben sowie ihre ausführlich festgehaltenen Erinnerungen - als Typoskript neben anderen Unterlagen in der Exilbibliothek im Literaturhaus Wien einzusehen‘ — sind Basis für die folgende Skizze der Familie Hochstimm. Felix Hochstimm wurde am 28. August 1888 in Mährisch-Ostrau geboren, er war das jüngste von acht Kindern Heinrich Hochstimms und seiner Frau Julie, geb. Wohl.” Während seiner Gymnasialzeit wechselte Hochstimm mehrmals den Wohnort.® Ab dem Wintersemester 1906 studierte er an der Universität Wien Germanistik’ und wurde im Mai 1910 promoviert; in seiner Dissertation hat er sich mit Franz Horn, einem Schriftsteller und Kritiker, auseinandergesetzt.!" Bald nach der Promotion — die Meldedaten sind hier nicht ganz