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Jörg Thunecke Edith Kramer (1916 — 2014) Am 21. Januar 2014 verstarb die Malerin und Kunsttherapeutin Edith Kramer in Grundlsee (Steiermark) im biblischen Alter von 97 Jahren. Geboren wurde sie am 29. August 1916 in Wien als Kind „jugendbewegter, gegen biirgerliche Moralvorstellungen rebellierender Eltern“', gleichwohl ihre Großeltern, mütterlicherund väterlicherseits, aus gutbürgerlich-jüdischen Verhältnissen stammten: Felix Neumann (1862 — 1953), ihr Großvater mütterlicherseits, war Fabrikant?, die Großmutter, Anna NeumannLichtblau (1874 — 1940), Tochter eines hoch angeschenen Wiener Bürgers.’ Die großväterliche Familie hatte vier Kinder, von denen Ediths Mutter Josefine, genannt Pepa (1897 — 1937), das drittalteste war.* Max Kramer (1867 — 1935), Edith Kramers Großvater väterlicherseits, war Gemeindearzt in Niederhollabrunn (Niederösterreich)°, die Großmutter, Betty Kramer-Doctor (1869 — 1943), Tochter eines Fabrikdirektors in Stockerau (Niederösterreich). Max Kramer hatte zwei Söhne: Richard Kramer (1893 — 1976) und Theodor Kramer (1897 -— 1958), der bekannte Dichter. Richard Kramer, graduierter Diplomingenieur, war in seiner Jugend engagierter Kommunist, obwohl er sich später von der Politik abwandte (er dürfte ca. 1928/29 aus der Partei ausgetreten oder ausgeschlossen worden sein). Er verdiente seinen Lebensunterhalt als Holz- und Kohlehändler Am Spitz in Floridsdorf (wo Brünner- und Pragerstraße zusammenlaufen). Pepa Neumann, Edith Kramers Mutter, war seit ihrem sechzehnten Lebensjahr in der Wiener Jugendkulturbewegung aktiv, wo sie Kontakt mit dem Psychoanalytiker und Reformpädagogen Siegfried Bernfeld (1892 — 1953), der später eine Zeit lang mit ihrer Schwester Elisabeth verheiratet war, und Otto Fenichel (1897 — 1946) bekam — beide zentrale Figuren in der österreichischen Jugendbewegung.° Hier lernte sie auch ihren zukünftigen Ehemann, Richard Kramer, kennen, den sie - gegen den Willen ihrer Eltern — siebzehnjährig heiratete.’ Die Ehe war jedoch keine glückliche: Richard und Pepa lebten meist getrennt (Richard Kramer hatte eine Wohnung in Floridsdorf, Edith Kramer verbrachte ihre ersten Lebensjahre bei den Großeltern in Wieden, dem 4. Wiener Gemeindebezirk), wobei die Großeltern mütterlicherseits ihre Tochter und Enkelin finanziell unterstützten. Von 1924 bis 1929 lebte Pepa mit ihrer Schwester Elisabeth Neumann (der Schauspielerin) in Berlin. 1925 zog Siegfried Bernfeld zu den beiden Schwestern und heiratete Elisabeth (1930 — 1934), und ab diesem Zeitpunkt wurde er für Edith Kramer quasi eine Art Ersatzvater. Es war Bernfeld, der Pepa riet, ihre Tochter auf eine vom Reformpädagogen Bernhard Uffrecht (1885 — 1959) gegründete fortschrittliche Landerziehungsanstalt bei Letzlingen (in der Nähe von Magdeburg) zu schicken, wo Edith drei Jahre verbrachte.® 1929 kehrte sie mit ihrer Mutter nach Wien zurück und ging anschließend auf die Schule von Eugenie Schwarzwald (1872 — 1940), eine progressive Anstalt, die bereits ihre Tante Elisabeth besucht hatte. Anfang 1934 maturierte sie und beschloß, eine künstlerische Laufbahn einzuschlagen. Die Sommerferien verbrachten die Familien Kramer und Neumann-Bernfeld regelmäßig am Grundlsee. Elisabeth Neumann hatte dort von ihrem Vater als Mitgift ein Haus geschenkt bekommen’, das Edith Kramer später erbte, und Edith machte dort erste Bekanntschaft mit Linksfreudianern”, die hier ab 1930 ebenfalls ihren Urlaub verbrachten. Abgesehen von den Linksfreudianern hatte Edith Kramer am Grundlsee auch Kontakt mit der künstlerischen Avantgarde, wobei insbesondere auf ihre spätere Lehrerin Friedl Dicker (1898 — 1944) hingewiesen sei, die wiederum mit Otto Fenichel befreundet war. Edith Kramer hatte im Alter zwischen fünf und dreizehn zu verschiedenen Zeitpunkten Zeichenunterricht bei Trude Hammerschlag (1899 — 1930), einer ehemaligen Kunstpädagogin in Siegfried Bernfelds „Kinderheim Baumgarten“, die später auch in Wiener städtischen Kindergärten tätig war, nachdem sie in der örtlichen Kunstgewerbeschule die Methoden von Franz Cizek (1865 — 1947) kennengelernt hatte. Cizek hatte dort unter dem Motto „Stülpen Sie ihre Seele nach außen!“ angeregt, Jugendliche in einer stimulierenden Atmosphäre zu veranlassen, ihre persönlichen Erlebnisse zu schildern und in Kunst umzusetzen." Nach der — späteren — Darstellung Edith Kramers kam dies der Aufhebung inhaltlicher Beschränkungen gleich, indem Kinder ermutigt wurden, ihre Konflikte und Leidenschaften zeichnerisch darzustellen. Trude Hammerschlag - als Studentin Cizeks — war also eine Quelle der späteren kunsttherapeutischen Ausrichtung Edith Kramers. Die andere Quelle war ihre zweite Lehrerin, Friedl Dicker, die ihrerseits —- nachdem sie an Kursen bei Franz Cizek teilgenommen hatte — die private Kunstschule von Johannes Itten (1888 - 1967) besuchte und diesem, als er 1919 an das Bauhaus in Weimar berufen wurde, mit einer Gruppe von Schülern folgte.'? Dessen „Anliegen war die Förderung der schöpferischen Selbstentfaltung des künstlerischen Subjekts“'’, und Dicker studierte unter Itten, bis dieser in den frühen 20er-Jahren aufgrund von Meinungsverschiedenheiten mit dem Leiter des Bauhauses, Walter Gropius, seiner eigenen Wege ging. Dicker arbeitete anschließend in Wien als Innenarchitektin, bis sie 1930 als Kunstpädagogin tätig wurde. Eine ihre Schülerinnen in den frühen 30er-Jahren war Edith Kramer. Als Dicker 1934 aus politischen Gründen nach Prag zog'‘, folgte Edith ihr.'° In Prag unterzog sie sich dann alsbald auch ihrer ersten Psychoanalyse (bei Annie Reich), die sie später in New York fortsetzte. In den darauf folgenden Jahren besuchte sie ihre Mutter in Wien nur noch gelegentlich, bis diese — sie litt unter psychischen Störungen - 1937 Selbstmord beging. Von 1936 bis 1938 unterrichtete Dicker regelmäßig Kinder und Jugendliche von Emigrantenfamilien, die unter psychischen Störungen, verursacht durch die Vertreibung bzw. Flucht aus der Heimat, litten. Dicker versuchte durch den Inhalt des von den Kindern Dargestellten Aufschluß über deren Seelenleben zu gewinnen. Für Edith Kramer, die Friedl Dicker dabei behilflich sein durfte, waren die Erkenntnisse aus den Zeichenstunden mit diesen Flüchtlingskindern von zentraler Bedeutung für ihr zukünftiges Schaffen in der Emigration. Später — in New York — schuf sie dann den theoretischen Unterbau für einen derartigen kunsttherapeutischen Ansatz, der darauf basiert, „daß unter bestimmten Voraussetzungen der künstlerische Prozeß an sich therapeutische Wirksamkeit haben kann.“'° Dicker wurde 1942 — mit ihrem Ehemann Pavel Brandeis — in das Ghettolager Theresienstadt geschafft und erlangte nachträglich Berühmtheit durch ihren Zeichenunterricht mit hunderten dortigen Lagerkindern.'” Es kam ihr dabei insbesondere auf die „Ich-Stärkung“ der kindlichen Seele an, so daß die Kinder Mut und Ausdauer erlangen konnten August 2014 19