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Anton Marku Der Bettler meiner Stadt Ich gehöre der unglücklichen Generation der Balkanvölker an, die ihr Leben in zwei Teile teilen: das vor dem Krieg und das nach dem Krieg. Vor dem Krieg, knapp am Ende des vergangenen Jahrhunderts, waren die Menschen in dem Land, aus dem ich komme, nicht sehr reich. Auch nicht sehr arm. Keiner hatte zu viel. Aber fast alle hatten, was sie zum Leben brauchten. Immer wenn es notwendig war, half man dem anderen. Wenn etwas Gutes getan wurde, sprach man von Solidarität. Die, die solch eine gute Sache machten, wollten unbemerkt bleiben und jammerten nicht. Nach dem Krieg arbeitete ich bei einem deutschen Privatverein. Die Arbeit war so, dass viele Ireffen und Besprechungen außerhalb der Büros zu erledigen waren. Oft auch in den Kaffeelokalen. Diese Besprechungen verlangten besondere Aufmerksamkeit und Konzentration. Aber es war nicht immer so. Es ist mir passiert, dass wir mehrere Male das Gespräch wegen der Bettler, die von Tisch zu Tisch gingen, um ein Almosen zu verlangen, unterbrechen mussten. Die meisten waren Minderjährige. Deren Bittgebete und die darauf folgende Beharrlichkeit, nicht ohne ein Almosen wegzugehen, hörten nicht auf, sodass man es irgendwann störend fand. Am Anfang bemühte ich mich fast jedem eine Münze zu geben. Aber es wurden immer mehr. Eines Tages war ich in Begleitung einer niederländischen Kollegin, die die Bettler indifferent und mit einem kalten Blick anschaute. Später erzählte sie mir, dass sie Bettlern grundsätzlich nichts gebe, da sie damit die Verbreitung dieses Phänomens unterstützen würde. Ihre Erklärung schien mir merkwürdig, nahezu beleidigend. Langsam fing ich an mich von meinen Handlungen zu distanzieren, indem ich mit mir selbst kämpfte und in solchen Fällen mich zurückzuhalten versuchte. Seit fünf Jahren lebe ich fern meines Geburtslandes. Der westeuropäische Alpenstaat ist jetzt meine zweite Heimat. Jahrelang setzte sich die Politik dieses Landes für einen beschränkten Zuzug von Ausländern, insbesondere aus den östlichen Teilen des Kontinents, ein. Aber diese Zeit ist vorbei und die Hauptstadt ist voll von Einwanderern. Unter ihnen auch viele Bettler. Jeden Tag ging ich an ihnen vorbei. Ich war der Meinung, wenn ich etwas gebe, würde ich mehr schaden als Gutes tun. Letztendlich sollen sich die staatlichen Institutionen mit diesem Problem beschäftigen und nicht wir Bürger. Alles änderte sich eines Tages im Winter, als ich ihn beim Eingang des Gebäudes, in dem ich arbeitete, traf. Er war um die fünfzig, hatte einen winzigen Körper, große Augenlöcher und über seinen Lippen war sein grauer Bart zu schen. Er trug zerrissenes Gewand. Er zitterte vor Kälte. Eines seiner Beine war gelähmt und er schleppte es mit. Mit der rechten ausgestreckten Hand näherte er sich jedem Passanten. Einige verfolgte er, indem er den Refrain „Bitte, danke, bitte...“ andauernd wiederholte. Die meisten drehten nicht einmal den Kopf zu ihm. Einige schauten ihn genervt an. Mit Erniedrigung, mit Abscheu. Einige beleidigten ihn in ihrer Sprache. Wenige, schr wenige gaben ihm eine Münze. Ich blieb stehen. Ich fragte mich, wie groß können Elend und Armut sein, um die Menschen, insbesondere in diesem Alter auf die Straße zu zwingen!? Was wäre, wenn auch mein Leben eine andere Richtung nähme? Was wäre, wenn ich er wäre und er ich? Ich war entsetzt, als mir der Gedanke kam, dass das Schicksal auch mir gegenüber erbarmungslos hätte sein können. Und mit ihm 26 _ ZWISCHENWELT war es überhaupt nicht freundlich. Im Gegenteil. Ich sah mich um. Danach sah ich mich selbst an. Ich war gut gekleidet. Die teure und warme Jacke bedeckte den größten Teil meines Körpers. Ich hatte am Hals einen grauen Schal, trug Lederhandschuhe und einen Hut am Kopf. Ich sah ihn noch einmal an, danach wieder mich. Und ich fühlte mich unangenehm. So unangenehm, dass ich mich schämte. Ich holte aus der Geldbörse einige Münzen und gab ihm diese. Voller Freude nahm er sie, sah mich mit einer menschlichen Weichheit an und bedankte sich in seiner Sprache. Ich weiß nicht, wieso, aber seit dem Vorfall gab ich ihm immer wieder ein Almosen. Er bedankte sich auf seine Weise und ich fühlte mich gut und glücklich. Ich wurde beruflich und privat erfolgreicher. Ich spürte, dass ich etwas Gutes mache. Ich sah, dass ich mich als Mensch vervollkommne, und sah in dem anderen einen Menschen, Geschöpf Gottes. Das dauerte einige Monate. Eines Tages ging ich mehrmals aus dem Büro; der Bettler war nicht zu sehen. Ich dachte, er pendle auf den Straßen in der Nähe. Als ich ihn wieder nicht sah, begann ich die Münzen, die ich ihm geben wollte, in einer kleinen Metalldose zu sparen. Es vergingen Wochen und Monate. Er kehrte nicht mehr an seinen „Arbeitsplatz“ zurück. Das ersparte Geld wurde mehr und mir fehlte mein Freund, dessen Namen ich nicht kannte. Öfter denn je sogich den Rauch der Zigaretten ein und die leeren Weingläser zählte ich nicht mehr. Vor kurzem besuchte ich mit Bekannten eine Ausstellung, welche gerade in unserer Stadt eröffnet wurde. Die Künstlerin ist eine sehr bekannte Fotografin, die mit ihren Bildern einfache Menschen darstellt, jene, die in unserer Nähe atmen und die wir nicht sehen. Für einen Augenblick blieb ich atemlos. An einer Ecke der Galerie, auf einem der vielen Bilder, traf ich auf einen bekannten Blick. Es war der Bettler, der spurlos verschwunden war. Er hatte die gleichen Kleider wie immer an. An einer Hand trug er ein drei- bis vierjähriges Kind, an der anderen hielt er ein etwa zchnjähriges Mädchen. Sie schienen müde, verschlafen, hungrig, sehr hungrig zu sein. Als hätten sie seit langem nichts gegessen. Er lehnte seinen Körper an das Geländer einer alten Brücke. Unter der Brücke schoss der Fluss durch, der die Stadt in zwei Teile teilte. Ich wusste gleich, wo sich diese Stelle befindet. Mehrere Male bin ich dort vorbeigegangen. Wahrscheinlich ist das Bild vor einigen Wochen gemacht worden, weil die Blätter der Bäume schon abgefallen sind. Im Hintergrund war ein Hotel zu erkennen. Viele luxuriöse Autos, noch ein großes Einkaufzentrum, Verkäufer, die die Kunden in ihre Geschäfte einluden. Es schien, als hätten die Passanten kein Interesse an den Figuren des Bildes und dessen Autorin. Alle eilten mit großen Schritten irgendwohin und keiner hielt an. Es gab wenige Pärchen und es waren vorwiegend einsame Menschen unterwegs, mit niemandem an ihrer Seite. Einige Tränen verrieten mich. Meine Freunde betrachteten die anderen Bilder in der Galerie. Mir reichte das eine, welches ich vor mir hatte. Ich wollte mich von diesem Bild nicht trennen. Konnte mich nicht von den Kindern trennen, die anscheinend seine Kinder waren. Die Mutter ist vielleicht in der Heimat geblieben. Kann sein, dass sie nicht mehr unter den Lebenden ist. Oder sie ist gerade an einem anderen Ort der Stadt