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und macht „ihre Arbeit“. Kaum konnte ich den Morgen des nächsten Tages erwarten. Das Erste, was ich vorhatte, war zu der Brücke zu gehen und meinen Freund, der mir seinen Namen nie verraten hatte, zu treffen. Eigentlich fragte ich auch nie nach seinem Namen. Ich nahm auch die Metalldose, die ziemlich schwer geworden war, mit. Aber ich sah ihn nirgends. Nicht an diesem und nicht am nächsten Tag. Auch Wochen und Monate danach nicht. Ich suche weiter nach ihm und gehe jeden Tag an der Brücke vorbei und immer mit der Metalldose unter dem Arm. Ich weiß nicht, was ich mir mehr wünsche, die Metalldose noch „schwerer“ zu machen oder mein Gewissen zu erleichtern... Anton Marku, Jurist aus Kosova, hat an der kosovarischen Botschaft gearbeitet, zurzeit Rechtsberater für AsylwerberInnen; studiert EuAlbanisch sowie auf Albanisch/Deutsch erschienen. Anna Mwangi Ich bin doch Bankbeamter! Hoffentlich erkennt mich hier niemand. Wir stehen erst eine halbe Stunde da und schon sind wir halb erfroren. Dieser kalte Wind! Heute ist das erste Mal, dass ich versuche zum Betteln auch die Kinder mitzunehmen. Ich habe meinen einzigen Anzug angezogen. Ich will ja einen guten Eindruck machen. Die Leute sollen schen, dass ich nicht immer ein Bettler war. Gut, dass ich Brigitte nicht erlaubt habe meinen letzten Anzug ins Pfandhaus zu tragen! Wozu brauchst du den Anzug, hat sie gesagt, du bist kein Bankbeamter mehr. Ja, ich weiß, jetzt bin ich ein arbeitsloser Niemand. Seit drei Monaten kein Arbeitslosenbezug mehr, ausgesteuert, Brigitte ist die einzige, die etwas Geld nach Hause bringt, sie geht einmal in der Woche als Waschfrau zu einem Gastwirt. Ja, Gastwirte verdienen noch immer etwas, für ein Glas Wein reicht es auch beim Ärmsten. Die Weinhäuser sind voll. Die Lisa weint, es ist ihr kalt, sie möchte nach Hause. Doch zu Hause ist es auch kalt, wir haben seit Tagen nicht geheizt, uns allen knurrt der Magen, heute gab es zum ersten Mal kein Frühstück, nicht einmal ein Stück Brot. Ich hoffe, dass mich niemand erkennt, ich würde im Boden versinken, wenn mich ein Arbeitskollege aus der Bank sieht. Ein ehemaliger Arbeitskollege! Die Bank gibt es ja nicht mehr. Was die anderen wohl machen! Betteln wie ich? Ein älterer Mann ist gerade vorbeigegangen, er hat nichts in den Hut geworfen. Er hat mich so verächtlich angeschaut. Was er wohl über mich denkt? Ein junger Mann, der bettelt, warum arbeitet er nicht, es gibt bestimmt Arbeiten, für die er gut wäre. Wenn er wüsste, was ich alles probiert habe. Als Müllmann nach drei Tagen entlassen, die Mülleimer waren zu schwer für mich... Als Geschirrwäscher... zu langsam, zu ungeschickt! Nach zwei Tagen wieder auf der Straße! Zuletzt habe ich Luftballone auf dem Markt verkauft, aber ich habe fast nichts verdient, ich bin eben kein Verkäufer, ich bin Bankbeamter. Edith Suschitzky, Bettelnder Mann mit Kindern, Wien, um 1930 . Foto: National Galleries of Scotland Nur eines habe ich noch nicht probiert! Stehlen! Mein linker Nachbar, der Franzi Müller, hat sich als Einbrecher versucht und wurde gleich beim ersten Mal erwischt. Er muss mehrere Jahre in den Knast. Was wird jetzt aus seinen fünf Kindern? Eine ältere Frau hat sich umgedreht, sie hat die Kinder mitleidig, mich mit Verachtung angeschaut. Ein Rabenvate:, denkt sie wohl. Er zwingt die Kinder in der Kälte zu stehen und zu betteln, aber ich habe sie doch mitgenommen, weil sie zu Hause sowieso nichts zu tun haben. Die Leute haben vielleicht Mitleid mit den Kindern und geben uns mehr Geld, als wenn ich allein wäre. Aber die alte Frau hat wieder nichts gegeben, mein Gott, die Leute haben kein Herz. Vielleicht hat sie auch kein Geld, vielleicht ist sie eine arme Witwe! Die Glocke hat zwölf geschlagen, es wäre Zeit für ein Mittagessen. Die paar Münzen reichen für etwas Brot in der Bäckerei. Kommt, Kinder, gehen wir Brot kaufen. Da geht der Josef Schwarz, mein Nachbar. „Hallo, Herr Schwarz, ich mache einen kleinen Spaziergang mit den Kindern, sie brauchen frische Luft!“ Wie komisch er lächelt, glaubt er mir vielleicht nicht? Was macht er denn? Sche ich richtig? Er hält seinen Hut in der Hand und jemand wirft eine Münze hinein! Der Schwarz bettelt auch! Anna Mwangi, geboren in Ungarn, fand 1967 mit ihrer Familie politisches Asyl in Österreich. Studierte Russisch und Englisch und unterrichtete an verschiedenen Hauptschulen in Wien. Sie ist Preisträgerin des Exil-Literaturwettbewerbs und arbeitet zur Zeit an einem Roman mit autobiographischen Zügen. August 2014. 27