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Mark Klenk 1. Mai 1933 — Buridans Esel Mein Vater hat mir immer gesagt, dass eine Person, die am ersten Mai Geburtstag hat, viel Glück im Leben haben wird. Meine Vermutung ist, wenn diese Person am ersten Mai Neunzehnhundertdreiunddreißig dreiunddreißig Jahre alt wäre, würde das Schicksal diesem Menschen Unmengen von Glück schenken. Heute ist der erste Mai und dies ist mein Geburtstag, aber von Glück kann ich nicht reden. Ich kann mich nur fragen, in welche Richtung ich wegschauen soll. Die Welt meiner Kindheit, die Kaiserzeit, war für mich bunt, frei und unbelastet. Rückblickend scheinen mir die Menschen damals lebenslustiger, die Luft frischer gewesen zu sein. Die Männer und die Frauen kleideten sich stolz mit schönen Gewändern. Auch wir Kinder der Josefstadt spielten heiter mit Freunden im Schönbornoder Hamerlingpark. Aber im Zuge des letzten Krieges — der letzten bitteren Jahre der Monarchie — wurden Österreich seine Farben gestohlen. Praktisch über Nacht wurden viele misstrauisch und verschlossen. Auf den Straßen hörte man selten freundliche Begrüßungen. In den Kaffechäusern und auf den Marktplatzen ging es in den Gesprächen nur mehr um politische Dogmen und Weltanschauung, statt um Familie, Musik oder Kunst. Vielleicht werde ich langsam farbenblind, aber seit Jahren ist - insbesondere in Wien - alles nur mehr grau. Die Farbe Grau hat viele Nuancen, aber wahrlich, aus meiner Sicht werden Politik und Menschen in Österreich seit meiner Kindheit düsterer. Wien scheint mir ein Epizentrum der politischen Turbulenz und des menschlichen Unrechts zu sein! Wie kann man inmitten von so viel Farblosigkeit Geburtstag feiern? Alles Gute, sage ich mir halbherzig, während ich meine Jacke hole und in Richtung Zentrum gehe. Ich frage mich, in welche Richtung ich heute wegschauen soll. Die Antwort darauf weiß ich immer noch nicht. Warum muss ich mich überhaupt mit dieser verdammten Frage beschäftigen? Kann es so schwer sein, ungestört ein normales, anständiges Leben zu führen oder einfach in Ruhe, in Frieden gelassen zu werden? Warum gibt es in jeder Richtung, in die ich schaue, Turbulenzen, Diskrepanzen und Konflikte? Ich bin ein einfacher Handelskaufmann, kein Politiker! Müssen wir immer Wellen schlagen oder uns um unsere Mitwelt kümmern? Mehr als ein ruhiges Leben verlange ich nicht: ein einfaches, aber glückliches Leben. So wahr Jahwe mein Zeuge ist, bin ich ein glänzendes Beispiel eines durchschnittlichen Wieners: Ich lese regelmäßig Zeitung, ich arbeite fleißig und ich schließe Österreich in meine Abendgebete des Friedens und des Wohlergehens mit ein. Nichtsdestoweniger flimmert neue Hoffnung des Wohlergehens wie ein Funke des Lichts, der doch langsam immer heller wird, in meinem Leben. Bleib ruhig, sage ich mir, damit die Flamme nicht ausgeht! In den letzten Jahren war es für mich wie für einen Großteil der Wiener schwierig über die Runden zu kommen. Nach Jahren fleißiger Arbeit konnte ich einen eigenen Einkaufsladen mitten in der Josefstadt, nicht weit von der Synagoge entfernt, eröffnen. Als ich mit meinen Waren aller Art einen leichten Gewinn erzielen konnte, hatte ich das Gefühl, dass mein Geschäft langsam aufblüht. Ein Gewinn in diesen harten Zeiten ist cher 28 _ ZWISCHENWELT selten zu erwarten! Warum sollte dieser Friede gestört werden? Gerade heute, an meinem Geburtstag, denke ich, ein Leben in Frieden sollte möglich sein. Als ich mich auf eine Sitzbank mit Blick auf die Ringstraße setze, um die sogenannten Spaziergänger zu beobachten, frage ich mich: Wer sind überhaupt diese Demonstranten, die so viel Lärm machen, zum Aufmarsch aufrufen? Kommunisten, Arbeiter, Sozialdemokraten? Vielleicht gibt es einen guten Grund für den Aufmarsch, aber Dollfuß hat den traditionellen Maiaufmarsch verboten. Jetzt müssen die Demonstranten sich als Spaziergänger tarnen. Ich spüre, dass ich unrund werde, wenn ich mich weiterhin mit den aktuellen Ereignissen beschäftige... aber ich muss zugeben, dass die Demonstranten großteils recht haben. Dollfuß macht es niemandem einfach. Im März löste er sogar das Parlament nach einer angeblichen Abstimmungspanne auf! Danach behauptete er, dass das Parlament beschlussunfähig sei! Österreich, beschlussunfähig? Nein, ich darf um meines lieben Friedens willen nicht so viel nachdenken! Dollfuß ist an der Macht. Das müssen wir akzeptieren, weil wir ihm sein Amt, wenn nicht aktiv, dann zumindest passiv, gegeben haben. Für mich ist die graue Farbe der Stadt weg und alles ist nur noch schwarz. Verdammt, diese Gedanken will ich nicht haben! Ich möchte nur meine Ruhe! Aber in welche Richtung soll ich wegschauen mit Mussolini in Italien, Hitler in Deutschland und Dollfuß in Wien? "Trotz Sonnenscheins fröstelt es mich, wenn ich an meinem Geburtstag von der kalten Sitzbank aus die versperrte Ringstraße betrachte. Das Bundesheer sichert die Innenstadt mit Stacheldraht, Maschinengewehren und Sandsäcken ab. Das ist wahrlich unheimlich mit anzusehen! Das bewaffnete Bundesheer schützt die Stadt Wien vor einem Arbeiterverein und Männern mit sozialistischen und kommunistischen Ansichten. Uns vor denen schützen? Wie gefährlich können diese demonstrierenden Spaziergänger sein, die keine Waffen tragen? Ihre einzigen Waffen sind ihre Siämme und ihr Mut. Als symbolisches Zeichen der Solidarität mit der Arbeiterbewegung haben die meisten von ihnen ein rotes Taschentuch dabei. Aber was soll mir Rot sagen? Soll die Farbe Rot das graue Österreich bunter machen? Macht Rot uns sicherer? Atmet Rot der gelähmten Sozialdemokratie wieder Leben ein? Oder schützt uns Rot vor dem bewaffneten Bundesheer? Schau doch weg!, sag ich mir. Das Ganze geht dich nichts an. Mit einem schlechten Gefühl im Bauch, wie ein dräuender Sturm vor der Küste meines Seelenfriedens, versuche ich mich von der eiskalten Sitzbank zu erheben und möchte gehen, aber ich bin wie im Hafen eines turbulenten Meeres fest verankert. Graue Spaziergänger mit roten Taschentüchern nähern sich wie hohe Wellen den Stacheldrahtsperren. Sicher, dass die Wellen an den Sandsäcken nicht vorbeikommen können, wartet das Bundesheer eisern ab, als ein Demonstrant, ein Spaziergänger mit rotem Taschentuch, der Sperre näher kommt. Schweigend stellt er sich stur vor die Stacheldrahtsperre. Ein Soldat, am Ende seiner Geduld, schreit drohende Befehle, wie ein Hund, der als letzte Warnung vor dem Angriff bellt. Jahwe, hilf mir! Der Mann wird vor meinen Augen festgenommen! Ich kann bezeugen, dass er nichts getan hat! Was sind dies für graue Zeiten? Ich versuche zu gehen, aber