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Nachdem sich die auf ihr vereinsamendes, apartes Damensein pochende und auf das unumstritten existente Angebot verweisende Dame - aus eigenem Willen - entfernt, bringe ich zwei berühmte Fotografien an die Öffentlichkeit unseres, der besonderen Aufmerksamkeit des Zugpersonals anvertrauten und dem Wohlwollen der reisenden Damen verpflichteten Nachtzugs. Ich klebe sie, vom pflichtbewussten Schaffner noch ungeschen, auf das Fensterglas des Damenabteils: links die über einen Tisch gebeugte Hannah Arendt, mit der Zigarette in der Hand und dem scharfen Blick nach oben; rechts die mit verschränkten Armen sitzende, rauchend still nachdenkende und in ihrer gedanklichen Vertiefung geheimnisvoll wirkende Edith Tudor-Hart. Zwei biografische Fotografien mit der Zigarette in der Hand. Schwarzes, burschikos unbeugsames Haar und die Abwesenheit jeglicher femininen Posse. Das Entzückende, das Unbeirrbare, das vom Betrachter Abgewandte, das Nichtangebotene, Nichtzur-Verfügung-Stehende: Es wird hier kein Körper bloßgestellt und keine Dame wird hier dem begierigen Blick des Betrachters anempfohlen. Es ist vielmehr der anderswohin gerichtete Blick selbst, der mit dem Kameraauge gefangen werden soll. Der scharfe, auf ein ganz bestimmtes Ziel gerichtete, zweifelsohne nicht uns geltende Blick: der entblößend-wagemutige Blick der Sehenden, der Theoretikerin. Darin wäre es vergebens, nach dem femininen Unwohl in der Männergesellschaft, nach Angstlichkeit zu suchen. Würde dieser Blick die Kamera selbst ins Visier nehmen, wäre das zu viel für den Betrachter. Dieser Blick gilt nicht dem Betrachter. Dieser Blick sucht nicht nach Kontakt, Gefallen oder Anerkennung. Er sucht nicht nach Sicherheit oder Abschottung im eigenen Abteil. Nein, dieser Blick geht im gedanklichen Marschschritt direkt nach vorne, er will fragen und stören, anstatt ungefragt und ungestört sitzen zu bleiben. Der nach unten gesenkte Blick der Anschauenden, der Fotografin. Der Blick, der etwas anvisiert, es aber für sich behält. Der Blick, in welchem sich das Gesehene soeben im Entstehen befindet, in welchem es seine äußere Gestalt annimmt, noch bevor diese von uns, den Zudringlichen, gesichtet werden kann. Das Geschene wird durchgeschen. Die ideologische Drehscheibe, die auch die Fensterscheibe unterstützt, auf der sich die Porträts befinden, wird von dem scharf sehenden Blick durchbrochen. Frei im Unfreien seiend, bleiben diese Blicke eingekapselt in einem dunklen Interieur, in einer Kammer womöglich, in der jede Bewegung folgsam verfolgt wird. Dort drinnen, in diesem Damenabteil, führen die Sehende und die Anschauende ihre Notizhefte: das Denktagebuch, das Fotoalbum. Sie führen sie so streng „wie die Behörde das Fremdenregister“ (Benjamin). Selbst tun sie das, was wir ihnen in diesem Abteil antun. Wir, die BeobachterInnen, die anscheinend vor sich hin dösen, sehen ihnen mitunter insgeheim zu. Ihre Namen, abgekürzt bis zur Anonymität — H.A. und E.S. - stehen in unseren anscheinend ahnungslosen Moleskine-Heftchen für fremde Elemente. Mit ihrem Kritzeln und Zeichnen werden sie uns suspekt. Die BeobachterInnen Uns. Wir sind die BürgerInnen, die Einverstandenen, die auf Ordnung setzen. Wir verfolgen die Unordentlichen, Außerordentlichen. Wir vertrauen der Bahngesellschaft und wir setzen auf die Behörden. Die Bahngesellschaft und die Behörden tun letztendlich alles zu unserer eigenen Sicherheit. Dank ihnen sind wir frei. Dank ihnen sind wir emanzipiert und geschützt. So seiend, werden wir diese oder jene kleine Vorschrift, Verordnung, Verbürokratisierung unseres Selbst und die Kürzung der eigenen Freiheit begrüßen. Anstatt sich dem sehr möglichen Druck der Belästigung auszusetzen, kann den Unannehmlichkeiten bestimmt auch auf simplen bürokratischen Wegen vorgebeugt werden. Die Sachen sollen nach dem Regelwerk gehandhabt werden. Der Mann soll laut Angebot entfernt werden. Der Mann soll für die ordnungsbewusste, sich in seiner Gesellschaft nicht wirklich wohl fühlende Dame Verständnis aufbringen. Vorschrift ist Vorschrift, Angebot ist Angebot und Dame ist Dame. Wenn notwendig, werden wir den Zug in vollen Zügen versonderabteilen. Wir werden uns in allen Lebensbereichen auf solche Sonderangebote verlassen. Wir werden einfach das Leben einfach machen. Ivana Perica, geb. 1984, promoviert zum Thema „Die privatöffentliche Achse des Politischen: Das Unvernehmen zwischen Hannah Arendt und Jacques Ranciere“. Dazu schreibt sie Essays, Rezensionen, Lyrik und literarische Prosa, die bis jetzt in Zeitschriften (Tema, Zarez, Wespennest, Lichtungen, aerosol.cc) und Internetplattformen (wwu.textfeldsuedost.com, www.h-alter.org und www.sicetnon.org) erschienen sind. Sie ist Vorsitzende des Vereins „Blaberon‘, für den sie den Aufsatzband ,, Polititko — Pedagosko: Janusova lica pedagogije“ (Zagreb 2012) herausgegeben hat (http.//blaberon. wordpress. com/zbornik-politicko-pedagosko/). Soeben ist ihr Buch der Poesie „Mirila“ erschienen. August 2014 31