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Jan Kreisky Die Tschechoslowakei Vorgeschichte Seit dem Vormärz und der Revolution 1848 verschärft sich im Vielvölkerstaat der Monarchie die nationale Frage. Gleichberechtigungsbestrebungen der nicht-deutschen Nationen werden im Neoabsolutismus unterdrückt. Die Schwäche des Regimes bietet 1867 den Ungarn die Gelegenheit, einen Staat innerhalb des Habsburgerreiches durchzusetzen - ein Vielvölkerstaat in sich mit Ungarn als bestimmender Kraft. Die „Länder der Wenzelskrone“ wollen eine ähnliche Stellung wie Ungarn, die Forderung der Tschechen nach einem dritten Staat innerhalb des Habsburgerreiches hat jedoch kaum Realisierungschancen. Zwischen den „Ländern der ungarischen Stephanskrone“ und den „im Reichsrat vertretenen Königreichen und Ländern“ gibt es keinen Nationalitätenkonflikt, zumal in beiden Teilstaaten Slawen um Gleichberechtigung ringen. Die „Ischechoslawische Sozialdemokratische Partei in Österreich“ entsteht 1878 aus einer Sektion der Sozialdemokratie Österreichs, gegründet 1863 in Asch (Böhmen). 1893 macht sich die Tschechoslawische Sozialdemokratische Partei von der österreichischen Mutterpartei unabhängig. Die Tschechische National-Soziale Partei (später National-Sozialistische Partei) wird 1897 als Abspaltung von der (und als Gegengewicht zur) tschechoslawischen Sozialdemokratie nach Austritt von fünf Abgeordneten gegründet, die im Streit um den Kurs der Partei auf nationale Eigenständigkeit drängen. Seither ist sie im Reichsrat vertreten. Die tschechoslawische Sozialdemokratie hält bis in den Ersten Weltkrieg hinein an der Forderung nach Autonomie innerhalb des Habsburgerstaates fest, 1918 spielt sie eine führende Rolle bei der Gründung des tschechoslowakischen Staates. Der Erste Weltkrieg (1914-18) endet mit dem Zusammenbruch der k.u.k. Monarchie. Schon während des Krieges bereiteten Gruppen im Pariser Exil und in den USA (um Tomä$ Garrigue Masaryk, Edvard Bene$ und Milan Rastislav Stefanik) und im Inland (die Jungtschechen um Karel Kramäf) die Gründung der Tschechoslowakischen Republik und ihre Anerkennung durch die Entente-Staaten vor. Gegen Ende des Krieges ist das Territorium der späteren Republik Durchgangsstation für jüdische Pogromfliichtlinge aus Polen, der Ukraine und Russland. Am 28. Oktober 1918 wird die Tschechoslowakische Republik (CSR) ausgerufen. Der Nationalausschuss (11. November 1916 bis 14. November 1918) wird um die — in Absprache mit den an der Staatsgründung beteiligten Parteien gebildete — provisorische Nationalversammlung erweitert. In dieser wirken als stärkste politische Kraft die Tschechische Agrarpartei mit 55 Abgeordneten und die „Ischechoslowakische Sozialdemokratische Partei der Arbeiter“ (CSSD) mit 47 Abgeordneten als zweitstärkste Kraft mit. Am 12. November 1918 wird die Republik Deutsch-Österreich ausgerufen. Die deutschen Parteien aus dem Gebiet der neugegründeten CSR sind Mitglieder der aus den deutschen Abgeordneten des Reichsrats bestehenden provisorischen Nationalversammlung und verlangen 42 2WISCHENWELT den Anschluss der überwiegend deutschsprachigen Gebiete an Deutsch-Österreich, während die CSR die Sudetengebiete fiir sich reklamiert. Die Provisorische Verfassung der CSR tritt am 14. November 1918 in Kraft. Tomäs Masaryk wird erster Präsident. Karel Kramäf wird Ministerpräsident einer Allparteienregierung. Die Slowakische Volkspartei Hlinkas (1913 als eigenständige Partei gegründet) nimmt am 19. Dezember 1918 in Zilina ihre politische Tätigkeit auf. Im Januar 1919 gründet sich in Prag die Tschechoslowakische Volkspartei (CSL). Jan Sramek, 1894 bereits Vorsitzender der Mahrisch-schlesischen Christlich-sozialen Partei und Abgeordneter im Reichsrat (1907-18) in Wien, wird erster Vorsitzender. 1921 tritt die CSL in die Regierung ein. Im Friedensvertrag von St. Germain zwischen der Entente und der Republik Österreich (10. September 1919) werden Böhmen, Mähren und Schlesien als Staatsgebiet der CSR anerkannt, und zwar einschließlich der mehrheitlich deutsch besiedelten Gebiete. Die Grenzziehung bleibt von ungarischer, polnischer und deutscher Seite umstritten. Die deutschsprachige Arbeiterbewegung konstituiert sich im September 1919 in Teplitz-Schönau als „Deutsche sozialdemokratische Arbeiterpartei in der CSR“ (DSAP). Sie tritt bei den Parlamentswahlen an und wird ab 1929 auch Regierungspartei. Ludwig Czech, Rechtsanwalt in Brünn, wird 1920 Vorsitzender der DSAP. Er ist Nachfolger des ersten Parteivorsitzenden Josef Seliger, der am 18. Oktober 1920 verstirbt. Daneben gibt es in der CSR auch eine Ungarische SDAB eine Polnische SAP und eine Ukrainische SDAP Die Kommunistische Partei der CSR (KSC/KPTsch) bildet sich als übernationale Partei am 14. Mai 1921 aus einem von der CSSD abgespaltenen linken Flügel. Erster Vorsitzender ist Bohumir Smeral (ab Ende 1938 im Moskauer Exil). Die Arbeiterhilfe wird 1925 in der CSR gegründet (im März 1932 vom Innenministerium aufgelöst, besteht sie als illegale Rote Hilfe weiter). Bei den Parlamentswahlen am 16. November 1925 gewinnt die Kommunistische Partei stark hinzu, während die tschechischen Sozialdemokraten annähernd die Hälfte ihrer Mandate verlieren. Die allnationale Koalition zerfällt und die politischen Mehrheitsverhältnisse im Parlament verschieben sich zugunsten der bürgerlichen Parteien und einer Bürgerblock-Regierung. Eine Gruppe um Klement Gottwald übernimmt 1929 die Führung der KSC. Einige Griindungsmitglieder verlassen daraufhin die Partei. Zur Verhinderung habsburgischer Restauration und Eindämmung des ungarischen Irredentismus entsteht unter französischem Einfluss als Folge von Vertragsabschlüssen (14. August 1920 bis 7. Juni 1921) zwischen der CSR, dem Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen (SHS, ab 1929 Jugoslawien) und Rumänien die „Kleine Entente“. Der österreichische Bundeskanzler und Außenminister Johann Schober unterzeichnet am 16. Dezember 1921 auf Schloss Läny bei Prag einen Vertrag mit der CSR über gegenseitige Anerkennung der Grenzen. Weil Schober damit auf das Selbstbestimmungsrecht der Sudetendeutschen verzichtet,