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Gerda Hoffer Zwischenspiel in Prag Als Tochter von Ilka Lion und Stefan Pollatschek wächst die 1921 geborene Gerda Hoffer in Wien auf. In der Zeit des „Ständestaates“ kommt sie 1937 mit der Obrigkeit in Konflikt und verbüfst eine dreimonatige Gefängnisstrafe wegen illegaler politischer Betätigung. Gerdas Vater, von der Tochter liebevoll „Steffel“ genannt, kann im Juni 1939 nach Prag fliehen. Mit der Morgenpost war ein anonymer Brief, adressiert an Steffel, eingetroffen. Darin standen drei Zitate, die mir bis heute im Kopfblieben: „Meide die Nähe und suche die Weite, die eilende Weite, die vor dir sich breite.“ „Und ein sanfter Wind entführe den vornehmen edlen Kranken.“ „Nicht weiter kann mein starker Arm Euch schützen.“ Obwohl ich nach Kriegsende mein Möglichstes tat, um herauszufinden, wer unser Schutzengel war, ist es mir bis heute nicht gelungen, ihm zu danken. Zweifellos hat er Steffel und uns alle vor einem grässlichen Tod bewahrt. An diesem Tag war Steffel aus der Tür, noch bevor ich das Wort „Shanghai“ ganz ausgesprochen hatte. Viele Stunden später kehrte er heim mit einem chinesischen Visum und einer Bahnkarte Prag-Shanghai in der Tasche. Da der Iranssibirien-Express über Prag ging, war es ihm gelungen, ein tschechoslowakisches Durchreisevisum zu bekommen. Er hatte gar nicht die Absicht, diese Bahnkarte zu benutzen, sondern hoffte, dass sich in Prag irgendeine andere Möglichkeit bieten würde. Das Visum und die Fahrkarte hatten die Ersparnisse der gesamten Familie in Anspruch genommen. Es war unmöglich, dasselbe für Mutti, Tante Traud und mich zu erstehen, aber erst einmal musste Steffel verschwinden. Alles Weitere würde sich finden. Steffel sank völlig erschöpft aufs Bett mit der Absicht, die Nacht durchzuschlafen und dann den Morgenzug nach Prag zu nehmen. Meine Mutter wollte nichts davon hören, sie schob ihn fast mit Gewalt in den nächsten Zug, der Wien verließ. Schr zeitig am nächsten Morgen weckte uns lautes Pochen. Um Mutti zu schonen, raste ich ins Vorzimmer und öffnete die Tür. Draußen standen einige SA-Männer, einer von ihnen ein ehemaliger Schüler von Lehrer Springel, und verlangten Steffel zu sprechen. So gelassen ich konnte, erklärte ich ihnen, dass mein Vater verreist sei. Auf ihre Frage „Wohin“ antwortete ich wahrheitsgemäß „Nach China“ und verspürte sofort eine schallende Ohrfeige. Inzwischen waren Mutti und Tante Traud herbeigeeilt und zeigten die Rechnung des Reisebüros. Darauf bestanden die Bengel auf einer Hausdurchsuchung und verließen die Wohnung 30 Minuten später mit allen Wertgegenständen, die sie gefunden hatten „für Fingerabdrücke“, wie sie behaupteten. Zwei Tage nach Steffels Flucht konnte man das Land nicht länger ohne Ausreisevisum verlassen. Der Transsibirien-Express verließ Prag, obwohl mein Vater seinen teuren Sitz nicht eingenommen hatte. Seinem Bruder Erwin war es nämlich gelungen, das Durchreisevisum in eine Aufenthaltsbewilligung zu verwandeln, indem er das Bankguthaben eines Polizeibeamten um eine erhebliche Summe vergrößerte. Mit Erwins Hilfe erhielten schließlich auch Mutti und ich Einreisebewilligungen. Irgendwie gelang es meiner geschickten Mutter, in Windeseile die nötigen Ausreisepapiere zu beschaffen. Nicht aber für Tante Traud. Als Steffels Schwägerin zählte sie nicht zu seinen nächsten Angehörigen. Am 19. Juli 1938 begleitete sie uns zum Franz-Josefs-Bahnhof. Keiner von uns weinte. Wir waren sicher, dass es uns bald gelingen würde, auch ein Visum für sie zu beschaffen. Aber als der Zug abfuhr, merkte ich, wie sie sich mit einer müden Bewegung heimlich Tränen aus den Augen wischte. Wie gut, dass ich damals nicht wusste, dass ich sie niemals wieder sehen würde. Die Fahrt von Wien nach Prag dauerte fünf Stunden und brachte uns in eine andere Welt, in eine Welt von gestern, in der wir uns längere Zeit nicht zurechtfanden. An der Grenze kontrollierten Zollbeamte nicht nur unsere Koffer aufs Gründlichste, Mutti und ich mussten uns eine quasi gynäkologische Untersuchung gefallen lassen. Der tschechische Zollbeamte dagegen salutierte höflich und schenkte uns keinerlei Beachtung. In Prag erzählte Steffel, dass Onkel Erwin eine kleine, etwas primitive Wohnung für uns gemietet habe, und uns, da wir keine Arbeitserlaubnis hatten, großzügigerweise monatlich einen kleinen Betrag zur Verfügung stelle, von dem wir schr bescheiden leben könnten. In der Wohnung angekommen, bekam Mutti fast einen Tobsuchtsanfall. Da stand ein herrliches, sicher schr kostspieliges Blumenarrangement, das ein Cousin uns zur Begrüßung geschickt hatte. Wozu Blumen, wenn es am Allernötigsten fehlte? Sie weinte fast, weil es doch unmöglich war, die Blumen gegen eine elektrische Kochplatte umzutauschen, denn in der altmodischen Wohnung konnte man nur auf einem Kohlenherd kochen. Fast täglich waren wir bei verschiedenen Verwandten zum Nachmittagskaffee geladen. Warum nicht zum Mittagessen? Das hätte geholfen, die Lebenskosten zu verringern. Stattdessen wurden Lachsbrötchen und andere Leckerbissen serviert, und wir mussten zuhören, wie die Anwesenden sich in einer Sprache unterhielten, die wir nicht mehr sprachen. Statt lieber über Einreisevisa für Traud und andere Familienmitglieder zu beraten, redete man über die neue Herbstmode, über Dienstmädchenprobleme oder die bevorstehende Theatersaison. Uns fehlte natürlich das Geld fiir Theaterkarten, fiir Konzertbesuche, ja sogar fiir eine Tasse Kaffee im Kaffeehaus. Zum ersten Mal im Leben verbrachte ich die Abende im trauten Familienkreis. Meist waren wir drei bemüht, tschechische Vokabeln zu pauken. Nun, da wir der Gefahr entronnen waren, machte sich die nervliche Belastung der letzten Monate geltend. Meine sonst so vergnügte Mutter litt plötzlich unter Weinkrämpfen, Steffels Jähzornsausbrüche, sein väterliches Erbgut, wurden immer häufiger, und ich wurde immer launischer. Abende im trauten Familienkreis erschienen mir nun weit weniger wünschenswert als zu der Zeit, als Mutti allabendlich in der Bridgestube gearbeitet hatte. Weder Mutti noch ich verstanden allzu viel von Hauswirtschaft und vergaßen oft, das Nötigste zu kaufen. So fehlte es eines Tages mitten in der Wäsche an Seifenpulver, und ich lief schnell hinunter, um es beim nächsten Greißler zu besorgen. Vor der Haustür blieb ich wie festgenagelt stehen. Mir gegenüber standen völlig erschöpft Erich und sein Freund Kurt. Beide hatten die Hoffnung, ein Visum zu bekommen, aufgegeben. Es war ihnen gelungen, August 2014 51