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Paul Tischler Von Unter-Kubin über New York nach Washington Für Siglinde Bolbecher (1952 — 2012) Er hat vergessen wollen, ein anderer wollte er werden. Die Muttersprache verlernen. Ganz sich anpassen an das auserwählte Land. In Deutschland hatte er einen nordischen Vornamen, hier nennt man ihn Meir. Und auch das Madchen, das hier Hannah genannt werden wird, heifst anders. Rau und zäh wie das spröde Land ist er geworden. Hebräisch, die ihm weicher klingende Sprache der neuen Heimat, spricht er fließend und ohne Akzent. Und doch empfindet er immer noch die Einsamkeit des Exilanten. Aus: Anna Krommer, „Wo die Straße endet“ (1999) Es ist spät geworden in meinem Leben. Ich werde nicht mehr in die Heimat zurückfinden. Ich bin vertrieben worden und wurzle oberflächlich im Boden eines anderen Landes, auf einem fernen Kontinent. Eine Erbschaft wurde mir gestohlen — doch etwas überaus Wichtiges ist mir geblieben: die Muttersprache. Sie steht über den Schwenkungen alles Politischen, über jeder Ideologie. In Prag, wo ich eine deutsche Schule besuchte, erlernte ich die böhmische Nationalhymne. Sie begann mit einer Frage: „Wo ist mein Heim, mein Vaterland?“ Die gleiche Frage habe ich mir in meiner Jugend immer wieder gestellt. Aus: Anna Krommer, „Vom Zwielicht der Träume und Erinnerungen“ Anna Krommer ist die dem Geburtsdatum nach letzte der deutschjüdischen Dichterinnen aus der Mittelslowakei. Zu den slowakeideutschen bzw. jüdischdeutschen Schriftstellern aus der Slowakei, der die universitäre Germanistik eine akademische Schrift — Magisterarbeit bzw. Dissertation — gewidmet hat, gehört seit 1995 auch Anna Krommer. Ihre Geburtslandschaft, die Gespanschaft Aarau (slowakisch Orava, ungarisch Ärva), im äußersten Norden der mittleren Slowakei gelegen, zählt bis heute zu den ärmsten Gebieten der Slowakei. Dieses historische Ländchen ist ohne Bodenschätze, mit kargem, steinigem Boden, der nur Kartoffeln und Hafer gedeihen lässt, mit rauem, kaltem, nassem Wetter und langen Wintern mit viel Schnee bedacht. Doch diese Region hat nicht nur den bedeutendsten slowakischen Dichter Pavol Orszägh Hviezdoslav — die einzige slowakische literarische Gestalt von wahrhaft europäischer, ja Weltbedeutung —, sondern auch bedeutende jüdische — slowakische und deutsche — Literaten sowie slowakeideutsche (= karpatendeutsche) Publizisten, Ärzte und Wissenschafter hervorgebracht. Unter anderem stammen von hier die hervorragende jüdischdeutsche Romanautorin Karoline Deutsch-Weiß, der international bekannte Germanist und KafkaForscher der Universität Prag, Prof.Dr. Eduard Goldstücker und 54 ZWISCHENWELT u’ Anna Krommer, 1947. Archiv der TKG die christlich-jüdische Lyrikerin Anna Krommer. Auf dem Gebiet der heutigen Slowakei - bis 1918 wurde diese Region als Ober-Ungarn bezeichnet, hatte zeitweise eine eigene Hauptstadt (Kaschau/Kassa, heute KoSice) und gehörte zu Ungarn als selbstständigem Staat — war die deutschsprachige Literatur bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts in jeder Hinsicht führend. Das Deutsche war neben dem abklingenden Latein auch jene Sprache, die die zwanzig Nationen und Nationalitäten Ungarns kommunikativ verband, ähnlich dem Englischen in Indien. In den drei Großregionen — der Westslowakei (das Kerngebiet heißt deutsch Pressburgerland), der Mittelslowakei (deutsch Hauerland) und Ostslowakei (deutsch Zipserland) —, die insgesamt an die 500 deutsche Autoren — Dichter und Literaturwissenschafter — hervorgebracht haben, gab es auch 70-80 deutschsprachige Autoren jüdischer Herkunft und deutscher Muttersprache, die zu der jeweiligen Landschaftsliteratur ihren Beitrag leisteten und traditionell zu dieser Landschaftsliteratur gehören. ' Die meisten deutschsprachigen Schriftsteller jüdischer Herkunft in der Slowakei kamen aus Pressburg und der übrigen Westslowakei?. An zweiter Stelle folgt die Mittelslowakei?, die wenigsten hat die Ostslowakei zu verzeichnen, obwohl gerade diese Region über die Hälfte aller deutschen Schriftsteller der Slowakei hervorgebracht hat‘; auch der älteste deutschjüdische Dichter der Slowakei, Simon Antonii (um 1610 Dobaschau — um 1679 wahrsch. Thorn), stammt aus dieser Region. Die Mittelslowakei schenkte der gesamten deutschsprachigen Literatur den bedeutendsten aller deutschen Verleger — Samuel Fischer, eine Persönlichkeit wahrhaft europäischer Bedeutung, in dessen Verlag seit 1890 auch die von der Kontinuität her älteste Literaturzeitschrift Deutschlands, die Neue Rundschau, erscheint. Anna Krommer wurde am 31. März 1924 in Unter-Kubin, dem Städtchen, wo Pavol Orszägh Hviezdoslav seine schönsten Werke dichtete und sein Leben verbrachte, geboren. Krommers Vater, Helmut Krommer, stammte aus einer für die Sudetendeutschen in Tschechien (Böhmen, Mähren und Österreichisch-Schlesien) geschichtsträchtigen Familie. Er war ein Großneffe des Bauernbefreiers Hans Kudlich, studierte Kunst an der Akademie der