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— zu sehr eingefahren ist schon ihr jetziges Leben. Claudio fährt zurück nach Amerika, denn „er war nicht mehr der zehnjährige Knabe, war nicht mehr Deutscher. Nur der Alptraum der Kindheit beängstigte ihn noch.“ (S. 12) Er fährt zurück nach Hause mit der neuen Gewissheit: „Mia, seine jungfräuliche Braut, war klug, doch dumm, war geschult, aber ungebildet, geschickt, aber geistlos, Kind der Emporkömmlinge der Bürokratie.“ (S. 30) „Der Zug rollte fort. Das Rattenhaus schloss sich für immer.“ (S. 47) Es gibt — nach einem nochmaligen Albtraum — wieder Licht für den Menschen Claudio. Ein kurzes, doch starkes Stück Prosa hat Krommer hier verfasst. Auf den Verleger harrt noch die autobiographische Erzählung Refugium, die laut Untertitel Ein Kapitel aus der Emigration 19391950 darstellt und die wichtigsten Abschnitte in ihrem Leben schildert, die Emigration, die Kriegszeit und die ersten Jahre der Nachkriegszeit. Darin heißt es: „Da waren die blanken Korridore des Klosters, Nonnen, Kirchenbänke besetzt von ängstlichen Juden, die Asyl und Freiheit suchten. Wir kämpften um ein Weiterleben ohne Habe, ohne Zukunft. Ich - plötzlich alt gewordenes Kind [...].“ Die Erzählung „beginnt mit der NS-Okkupation der Rest-Tschechoslowakei 1939, schildert die Flucht aus Prag und das friedliche, wenn auch dürftige Leben in einer englischen Provinzstadt unweit des bedrohten London. In Prag hatten sie und ihre Schwester zeitweilig in einem katholischen Kloster Unterschlupf gefunden, während die Mutter von der Gestapo verhört wurde. In der Hoffnung auf deren schützende Wirkung wurde die konfessionslose Krommer mit der Taufe versehen.“'* Es ist nur zu hoffen, dass die Erzählung bald einen Verleger findet, denn sie ist ein wichtiges Mosaik zu einer Zeit, in dem Deutschland, Europa und die Welt auf dem entscheidendsten Scheideweg der Menschheit standen. Krommer ist heute eine zweisprachige Autorin; sie schreibt deutsch und amerikanisch, Lyrik jedoch ausschließlich deutsch. Journalistische Beiträge, Gedichte und Prosa sind im deutschamerikanischen Aufbau, in der New Yorker Staats-Zeitung (beide New York), in den Citation Meritorious German-American Studies (1973) und in den europäischen Zeitschriften Literatur und Kritik (Wien, Jg. 1975, 1981, Juli 2001), Karpatenland und Impressum (beide München), Sudetenland (München), Mit der Ziehharmonika (Wien, seit 1988) und Mnemosyne (Klagenfurt) erschienen . Von ihren in Büchern noch nicht erschienenen Gedichten ragt das wiederholt nachgedruckte Der slowakische Wald sowie Die Nacht gärt Armut heraus. Ihre Werke sind außerdem in ca. 40 Anthologien erschienen, u. a. in: Amerika im austroamerikanischen Gedicht (1978), Reisegepäck Sprache (Denver/Colorado 1983), Die Sprache als Heimat (Berlin/Bonn 1981) und Nachrichten aus den Staaten (Olms-Verlag Hildesheim 1983). Von den Lesungen Anna Krommers sei wenigstens die wichtigste an der Universitat Graz von 1995 erwahnt. Krommer gehört zwei literarischen Vereinigungen an: TRANS-LIT (SCALG, Maryland/USA) und dem „Arbeitskreis Karpatendeutscher Schriftsteller“ (München)..' Auch für Krommer gilt, was für viele zur Auswanderung Genötigte zum Schicksal geworden ist: Einmal ausgewandert und auf Wegen, immer auf Wegen unterwegs, ohne ein Ziel, echte Heimat wieder zu erreichen! Dass sie diese Erfahrung nicht nur gemacht, sondern auch plausibel künstlerisch dargestellt hat, dafür sind wir — besonders jene, die einen ähnlichen Lebensweg gegangen — Anna Krommer als Menschen und Künstler besonders dankbar. Es gibt nur wenige Autorinnen jüdischer Herkunft aus der Slowakei, die im überseeischen Ausland Erfolg hatten. Doch fand auch hier - in den USA - Anna Krommer nicht die erhoffte Heimat, nur eine Ersatzheimat; dies bezeugen uns ihre Gedichte, durch die sich wie ein roter Faden das Ahasver-Motiv zieht, ja es ist zum Grundthema ihrer ganzen Dichtung geworden. Schmal ist das Schaffen der Dichterin Anna Krommer, einer Frau mit schönen, edlen Gesichtszügen, die mit einer echten Doppelbegabung — Literatur und Kunst - von Natur aus bedacht worden ist. Ihr Schaffen mit dem Hinweis, es handle sich nur um gängige, konventionelle Gedichtproduktion, abzutun, ist nur teilweise zulässig; doch auch andere Stimmen sind unüberhörbar zu vernehmen: „Dem Werk von Autoren, die sich auf die amerikanische Kultur ‚eingelassen‘ haben, kann man nur mit einem interkulturellen, die Amerikanistik mit einbeziehenden Ansatz gerecht werden. Anna Krommer ist eine solche Persönlichkeit. Signalisieren ihre vielen biographischen Stationen eine gewisse Ruhelosigkeit, so verleiht sie in ihren Gedichten nichtsdestoweniger einem |yrischen Ich Gestalt, das sich seiner Amerika-Erfahrung stellt und die fremde Kultur verstehen lernt. Nachtdschungel, ein großes Stadtgedicht und zugleich eines der besten New York-Gedichte, die ich kenne, ist hierfür ein gutes Beispiel. Die Naturmetaphorik, mit der die Stadt auf unheimliche Weise dynamisiert wird, erinnert an den deutschsprachigen Expressionismus, der die Bedrohung durch das übermächtig Urbane (aus der Perspektive eines vorstädtischen Bewusstseins) thematisiert. Das Bild des Dschungels verweist uns im Zusammenhang mit der Großstadt aber in die amerikanische Literatur. Upton Sinclairs Sensationserfolg des Jahres 1906, The Jungle (dt. allerdings Der Sumpf), verwendet das Bild für eine andere Großstadt, Chicago, mit seinen Schlachthöfen, in denen das menschliche Individuum zugrundegerichtet wird. Ein ähnliches Bild zeichnet Krommer im erwähnten Gedicht. Mit dem Personeninventar der drogensüchtigen Schwarzen, der Huren, der ‚Raubmenschen‘ entwirft sie ein bestürzendes und bedrohliches Szenario einer Stadt, in der das menschliche Individuum nicht nur in seiner Individualität, sondern auch in seiner Existenz bedroht ist. Aber nicht nur Bedrohung spricht aus dem Gedicht, sondern auch eine zunächst kaum verständliche Faszination, die nicht im Sozialkritischen aufgeht. Eine libidinöse Energie sprengt die Einheit der Zeilen und Sätze: ‚Nachtdschungel — Straßen — Labyrinth — Pulsschlag der Lust — wilder. Morphium und Absinth.‘ Auf der Suche nach Paralleltexten und kulturellen Kontexten stößt man auf die ‚Harlem Renaissance‘, die erste bedeutende schwarzafrikanische kulturelle Bewegung dieses Jahrhunderts. [...] So beschreibt etwa Langston Hughes, als Leiter des Harlemer Theaters [...] die Ambiguitat dieser Existenz [...] Die hier erwähnten Gedichte, die in den zwanziger Jahren erschienen sind, können als eindrucksvolle literarische und kulturelle Paralleltexte zu Anna Krommers Nachtdschungel betrachtet werden. Sie versetzen uns in die Lage, dieses Gedicht nicht nur als Spiegel einer negativen Erfahrung zu verstehen, sondern auch seinen emanzipatorischen, konstruktiven Gehalt wahrzunehmen. Wie die schwarzen Bewohner Harlems entwickelt auch das Iyrische Ich dieses Gedichts aus der Feder einer mitteleuropäischen Emigrantin Verstehensstrategien zur Orientierung in einer neuen Welt. Und es findet zu einer neuen lyrischen Sprache bzw. es adaptiert seine Sprache in der Auseinandersetzung mit seinen Erfahrungen in der neuen Kultur. [...] Alles Verstehen entwickelt sich im Dialog. Mit dieser Buberschen Erkenntnis können wir uns ‚Amerika‘ nähern, ohne es zu August 2014 57