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von DI Dora Miller’, pflegte. Eva Wolf und ihre Geschwister verbrachten die Sommer entweder in Neu-Titschein bzw. bei der Fabrik ihres Vaters in Leipnik an der Betschwa oder fuhren in den Luftkurort Mährisch-Weißkirchen in den angrenzenden Beskiden. Als hellwaches Kind lauschte sie immer wieder den Gesprächen der Erwachsenen bei Tisch. Dabei saß sie unter dem Klavier, einem Steinway-Flügel, auf dem ihre Mutter zu spielen pflegte und der mit einer bestickten, langfransigen Seidendecke dekoriert war. Für das aufgeweckte Kind Eva Wolf ein perfektes Versteck, von dem aus sie die Gespräche ihrer Eltern mit den Jausengästen belauschen konnte. Und einmal, so erinnert sie sich noch lebhaft, hörte sie, wie der Name „Hitler“ fiel. Sigmund Wolf war ein wachsamer Beobachter der politischen Szene, dem der Aufstieg des Nationalsozialismus und die immer stärker werdenden antisemitischen Tendenzen in der Zwischenkriegszeit gar nicht gefielen. So beschloss er, mit seiner Frau und den Kindern im Herbst 1937 nach Brünn zu übersiedeln. In der Lipovä Straße 48 mietete er eine Villa. Wenige Monate später erkrankte Sigmund Wolf an Krebs und musste sich zu Behandlungszwecken nach Wien begeben, wo er am 20. Februar 1938 im Kaufmännischen Sanatorium verstarb. NS-Terror, Widerstand und Alltag im „Protektorat“ Eva Wolf wurde im Herbst 1938 Zeugin, „wie in Neu-Titschein geheult wurde vor Freude, als der Hitler kam“ und sah, wie ihre Mutter vor Bestürzung ob der politischen Entwicklungen bitterlich weinte. Die Nürnberger Gesetze rassialisierten Eva Wolf und ihre Geschwister als „halbjüdisch“ bzw. „Mischlinge ersten Grades“ und hatten eine Reihe diskriminierender Verbote und Regelungen zur Folge. So wurde Eva Wolf der Schulbesuch verwehrt und ihr Bruder Peter in einer Fabrik zwangseingesetzt; ihre Schwester Charlotte musste in einer Transportfirma bei Brünn arbeiten. Der Bruder von Frida Wolf besaß „die beste Zuckerbäckerei Neu-Titscheins“ und war, als prominenter Unternehmer, formales Mitglied der NSDAB aber kein bekennender Nationalsozialist. Eines Tages rief er Frida Wolf an und teilte ihr mit, er habe die Urne ihres Mannes vom jüdischen Friedhof weggetragen und in Sicherheit gebracht, da morgen die Deutschen kämen und den jüdischen Friedhof eliminieren würden, was tatsächlich geschah. Die Grabsteine wurden weggetragen, die Ruhestätte dem Erdboden gleichgemacht. Heute steht vor dem Eingang des zerstörten jüdischen Friedhofs ein großer Gedenkstein, in den die Namen der ermordeten jüdischen BürgerInnen aus Neu-Titschein, unter ihnen auch einige Verwandte von der väterlichen Seite Eva Morton-Wolfs eingraviert sind. Im Marz 1939 wurde die Fabrik von Sigmund Wolf sofort unter Treuhandschaft gestellt, Frida Wolf wurde der Zutritt verweigert. Der jüdische Besitzer der Wolf-Villa wurde von den Nazis enteignet und die Villa von der Gestapo in Beschlag genommen. Deren Chef teilte Frida Wolf mit, sie müsse die Villa verlassen. Als „Arierin“ hatte sie noch eine relative Wahlmöglichkeit und konnte für ihre Familie eine Art Duplex-Haus in einem Villenviertel in Brünn mieten. Die Wolfs bewohnten das Hochparterre mit sechs Zimmern, über ihnen wohnte der Besitzer des Hauses, Dr. Jan Cerny?, der Landespräsident von Mähren und Statthalter von Brünn. Frida Wolf und Dr. Jan Cerny bildeten, so Eva Morton, eine „antinazistische Front“, die regelmäßig heimlich BBC hörte und von der tschechischen Hausmeisterin, „die nie im Leben 70. ZWISCHENWELT etwas Schlechtes gemacht hätte“ solidarisch mitgetragen wurde, wie auch vom Gros der anderen tschechoslowakischen MitbürgerInnen: „Wenn Sie einem Tschechen, also auch einem, den Sie nicht gekannt haben, gesagt hätten, „den Hitler soll der Schlag treffen“, so wär der nicht gerannt und hätte Sie angezeigt, sondern der hätte gesagt, „ja, Recht haben Sie, und hoffentlich bald!“ Wir haben ja alle regelmäßig Radio gehört: oben, der Herr Präsident Cerny — BBC Calling, im Hochparterre, meine Mutter - BBC Calling, im Erdgeschoss die Hausmeisterin — BBC Calling. Nie hat uns jemand angezeigt.“ Frida Wolf, die selbst kein Tschechisch konnte, ermahnte ihre Kinder immer wieder, auf der Straße nicht Deutsch zu sprechen. Das wäre Eva Wolf und ihren Geschwistern ohnehin nicht eingefallen. Eine deutsche Nachbarin, die schief vis-a-vis von den Wolfs wohnte, war als bekennende Nationalsozialistin gefürchtet. Dasss die Familie Wolf regelmäßig BBC hörte, drang glücklicherweise nicht zu ihr durch. Noch vor dem Einmarsch der Roten Armee 1945 war diese Nachbarin weg, „wie's Würschtl vom Kraut“, so Eva Morton-Wolf. Die Villa des Präsidenten Cerny befand sich auf einem Hügel oberhalb der Kaunicovy Koleje, eines Studentenwohnheims, das von der NS-Protektoratsverwaltung zu einer Hinrichtungsstätte von antifaschistischen WiderstandskämpferInnen und tschechoslowakischer Intelligenz umfunktioniert wurde. Eva Morton-Wolf kann sich noch lebhaft an die Schüsse erinnern, die von der Villa aus zu hören waren: „Wann immer wir Schüsse fielen hörten, wussten wir, da geht die tschechische Intelligenz dahin.“ TschechInnen, zu dieser Zeit so genannte „Protektoratsangehörige“ bekamen andere Lebensmittelkarten als Sudetendeutsche bzw. „Volksdeutsche“. Eva Wolf und ihre Geschwister wurden, da sie die tschechoslowakische StaatsbürgerInnenschaft besaßen, zu so genannten „Protektoratsangehörigen“ gemacht, die mit ihrer als „arisch“ rassialisierten Mutter und Anna Ulrich, der sozialdemokratischen Wiener Köchin, in einem Haushalt lebten. Die ungleiche Zuteilung von Lebensmittelkarten spielte im Haushalt der Wolfs glücklicherweise keine allzu große Rolle, da die Familie schr gut im Schleichhandel vernetzt war. Entweder kam ein Schleichhändler zu den Wolfs oder Frida Wolf kaufte immer wieder Waren von tschechischen Bauern auf dem Schwarzmarkt. Noch heute kann sich Eva Morton-Wolf an die horrenden Preise erinnern; so kostete damals ein Kilo Schweineschmalz 1000 Kronen (ungefähr 100 „Reichsmark“). Hinsichtlich der Versorgung mit Lebensmitteln hatte die Familie großes Glück und musste keinen Hunger leiden: „Und so haben wir den Krieg überlebt.“ Die Inhaftierten des Ghettos/KZs Theresienstadt bekamen hin und wieder Lebensmittelmarken, die „arische“ Verwandte für sie um ein 20-Kilo-Paket eintauschen durften. Über den Inhalt dieses Paketes gab es rigide Vorschriften — ein Laib Brot sowie eine bestimmte Menge an Selchfleisch, Mehl und Gries durften eingepackt werden. Frida Wolf bekam einige Marken vom Neffen ihrs Mannes, Friedrich Kober, und stellte ein Paket für ihn zusammen. Um die stark begrenzte Menge an Lebensmitteln vergrößern zu können, buk sie beispielsweise Wurst in einen Brotlaib ein. Eva Wolfs Aufgabe war dann, gemeinsam mit Anna Ulrich, der Köchin der Familie, das Paket zur nahe gelegenen Straßenbahnhaltestelle zu tragen, zum Brünner Hauptpostamt zu fahren und es dort aufzugeben. Nach den NS-Gesetzen durften jüdische BürgerInnen nur mehr auf der vorderen Plattform des letzten Wagons Platz nehmen. Eva Wolf und Anna Ulrich stellten das Paket auf