OCR
Richard Wall In enger Nachbarschaft In Erinnerung an tschechische Freundinnen und DichterInnen Es gilt die Oberfläche der Erscheinungen zu deuten. Das Geschaute ist oft, nicht immer, auch das Wahrgenommene. Das Wahrgenommene führt zu Ablagerungen im Bewusstsein, zu Schichtungen, berührt Vergessenes, aktualisiert Erinnerung. Sehen führt, je älter ich werde, zu einem simultanen Erinnern; Hoffnungen verschmähend erfahre ich ein seltsames Gefühl: Das Bewusstsein gleitet auf Schwingungen wie auf einem elastischen Gewebe aus Wahrgenommenem und Erinnertem. Schneereste in schattseitigen Lagen. Ein Warmwettereinbruch lässt Ende Dezember an Frühlingsbeginn denken. Doch ein Frühling ohne Winter ist kein Frühling. Nebel wabert ums Haus, Regenschauer. Das Altpapier im Vorbau des Hauses ist feucht wie Haarmützenmoos. Dann zerteilt eine Brise das Grau, ein fahloranges Licht legt sich über die Landschaft. Eine Lockung, der ich nicht widerstehen kann. Während des Spaziergangs fällt mir ein, dass ich vor sechzehn Jahren um diese Jahreszeit in Prag weilte, das damals in einer sibirischen Kälte gefangen war. In diesen frostigen, aber sonnigen Wintertagen wohnte ich im Atelier meines Freundes Zdenek Mackü, weit draußen in einem neuen Wohnblock, Metrostation Hürka, inmitten seiner Bilder und einer veritablen Staubzucht auf dem Fußboden abseits seiner bevorzugten Gehwege (wir hatten uns in der zweiten Hälfte der 70er Jahre, als wir beide an der Linzer Hochschule für Gestaltung studierten, kennengelernt; nach einer gescheiterten Ehe übersiedelte er Mitte der 80er Jahre wieder nach Prag). Eines Tages besuchte ich das Schriftstellerpaar Josef Hirsal und Bohumila Grögerovä im Stadtteil Veleslavin. Ich hatte mit ihnen Kontakt aufgenommen und wollte sie, als Veranstalter einer Reihe mit tschechischen AutorInnen im StifterHaus Linz, zu einer Lesung einladen. Bohumila und Josef waren in den 60er und 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts nicht nur mit Friederike Mayröcker und Ernst Jandl befreundet, sondern mit ihnen auch verglichen worden. Das tschechische Paar schuf mehrere Gemeinschaftsarbeiten; legendär ist ihre experimentelle Arbeit JOB BOJ. Mich vermochte vor allem ihre gemeinsam geschriebene Erinnerungs-Collage LET LET zu begeistern. Ich erinnere mich noch des aufsteigenden Rauchs aus dem Schlot des Fernheizwerkes am Ende der Straße. Die Adresse hieß „Pod novym lesem“, unter dem neuen Wald. Den Namen des Gässchens habe ich noch im Gedächtnis, nur die Nummer habe ich vergessen. Ich schrieb später mehrmals Briefe an diese Adresse, bis Josef einen Unfall mit fatalen Folgen hatte — er war, sein Gehörvermögen war schon beeinträchtigt, von einer Straßenbahn niedergestoßen worden — und Bohumila zu ihm nach Vinohrady gezogen ist. Er starb im Jahre 2003. Sie, die tapfere Gefährtin, lebt nun schon zehn Jahre ohne ihn. Sie ist auf eine Gehhilfe angewiesen und mittlerweile nahezu blind, und doch ist von ihr erst kürzlich wieder ein Buch erschienen, Dva zelene töny (Zwei grüne Töne). Der Besuch im Haus von Grögerovä — Hirsal lebte, wie schon erwähnt, im Stadtteil Vinohrady — entwickelte sich unerwartet zu einem wunderbaren Nachmittag mit intensiven Gesprächen 78 — ZWISCHENWELT und einem Gedankenaustausch, wie ich ihn nur selten mit KollegInnen erleben durfte. Die Sprache war kein Hindernis, beide sprachen ausgezeichnet Deutsch. Ich bekam abwechselnd Kaffee und Becherovka zu trinken, und es war Nacht, als ich das Haus wieder verließ. Das letzte Treffen mit Bohumila und Josef, bei dem wir uns austauschten, fand im Oktober 1999 im Cafe Slavia statt. Wir tauschten, wie immer, Bücher: Ich hatte ihnen mein neues Buch Wittgenstein in Irland mitgebracht, Bohumila überreichte mir ihr neues Werk Branka z pantü (zu Hause erfolgte, wie ihr versprochen, Kontaktaufnahme mit dem Droschl-Verlag, Christa Rothmeier übersetzte das Buch und es erschien dann unter dem Titel Das windschiefe Tor im Jahre 2003). Das Café Slavia war mein Stammlokal in Prag, nachdem das Café Malostranska auf der Kleinseite in den Umbriichen und den Immobilienspekulationszeiten Anfang der 90er Jahre aufgehört hatte zu existieren. Auch das Cafe Slavia war skandalöse fünf Jahre lang, zwischen 1992 und 1997, nachdem es an eine amerikanische Unternehmerin verpachtet worden war, geschlossen (angeblich hat sich Havel dafür eingesetzt, dass das Traditionscafé dann doch wieder als solches die Pforten öffnete). Ich schätzte den Blick auf das Moldauufer und hinüber in den Stadtteil Smichov, selbstredend auch die Geschichte der „Institution“: Zu den Stammgästen zählten Bedfich Smetana, Karel und Josef Capek, die Avantgardisten der Künstlervereinigung „Deve tsil“ und des Poetismus, später dann der Literaturnobelpreisträger Jaroslav Seifert, der „Erfinder“ der Rollage, Jiti Kolai, sowie Vaclav Havel, um nur einige der Bekannteren zu nennen. Im Gedicht Cafe Slavia aus dem Band Der Halleysche Komet schreibt Seifert nicht nur über den (fiktiven) Besuch von Guillaume Apollinaire, sondern spielt indirekt auch auf das von Viktor Oliva geschaffene Jugendstilgemälde Der Absinthtrinker an (Absinth steht auch heute wieder auf der Getränkeliste des Cafes): Von der Uferstraße durch eine Geheimtür / aus so klarem Glas, / daß sie fast unsichtbar ist, / und deren Angeln / geschmiert sind mit Rosenöl, / pflegte Guillaume Apollinaire einst einzutreten. // Er trug noch den Kopfverband aus dem Krieg. / er setzte sich zu uns / und las brutal schöne Verse, / die Karel Teige sofort übersetzte. // Dem Dichter zu Ehren / wurde Absinth getrunken, / der grüner / als alles Grüne ist, / und wenn wir von unserem Tisch aus dem Fenster blickten, / floß die Seine unter dem Kai. / Ach ja, die Seine!/(...). Von Bohumila und Josef auf Ladislav Noväk aufmerksam geworden, bemerkte ich eines Tages am unteren Ende der Närodni tf ida, unweit des Cafe Slavia, in einer kleinen Galerie einige Werke von ihm, topologische Zeichnungen, wie er sie nannte. Einen Gedichtband von ihm, Verzwoffnung, mit pechschwarzem Umschlag, hole ich, vom Spaziergang zurückgekehrt, aus meiner Bibliothek. Ich bereite Kaffee und blättere darin. Lese eine Notiz in meiner Handschrift am Ende seiner handgesetzten Biobibliographie, dass er 1999 gestorben ist. Damals, als ich das Buch gekauft habe, wahrscheinlich 1997, lebte er noch. Und ich lese: „... wenn der Dichter müßig geht / arbeitet er am fleißigsten.“ In alter surrealistischer Tradition schrieb er