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Aufforderungen wie: „Vor der Versuchung des heiligen Antonius von Grünewald verschlucke eine Spinne.“ An einer Stelle zögert mein Blättern, wahrscheinlich, weil ich im Verlaufe meines Spaziergangs im Wald an einem Ameisenhaufen vorbeigewandert bin. Ich lese, unter der Überschrift Zrotomagische Stellungen, zur „Stellung eines Betäubten (Nur für schr Erwachsene)“: „Nur in Badehose, ein Taschentuch, das an den Ecken mit vier Knoten versehen ist, auf dem Kopf, nimm die klassische Lotosstellung mitten in einem halbverlassenen Ameisenhaufen ein. Mit geschlossenen Augen verharre in stiller Betrachtung wenigstens solange, bis du dreimal den Kuckuck rufen hörst.“ An dem frostigen Dezembertag, da ich zwischen Weihnachten und Silvester des Jahres 1996 mit Zdenék die Bierstube „U Zlateho Tygra“ in der Husova aufsuchte, erzählte er mir, dass Bohumil Hrabal ins Spital Bulovka eingeliefert worden sei. Im „Goldenen Tiger“, zuletzt die Stammkneipe des Erkrankten, herrschte, wie vom König der tschechischen Prosa einmal beschrieben, ein Gewirr von Simmen, als würden in der Wölbung der Räume Dutzende Bienenstöcke schwärmen und summen. An den Wänden hingen gerahmte Tiger in allen erdenklichen formalen wie farbigen Abstraktionsstufen und Verfremdungen. Auf mindestens drei Fotos, gerahmt und in Passepartouts, war Bohumil Hrabal zu sehen, auf einem reichte Hrabal über den Präsidenten Havel hinweg Clinton die Hand. Es hing gleich vis-a-vis vom Eingang, in dem wegen der großen Kälte in diesen Tagen auch noch ein schwarzer, bockiger Filzvorhang hing. Hrabal ist links im Bild, sein markanter, nahezu kahler massiger Kopf mit den grauen Haaren über den Ohren ist mir eine vertraute Vignette. Es muss 1994 gewesen sein, als Vaclav Havel und sein Amtskollege Bill Clinton aus den USA hier dem Pilsner Bier zugesprochen haben. Rechts vom Eingang hing an der Wand ein surrealistisch anmutendes Bild, eine gemalte, hochformatige Collage, in der das linke untere Bildviertel von einem En-Face-Portrat von Hrabal dominiert wurde, darüber, etwa oberhalb der Hälfte, ohne diese jedoch auszufüllen, ein ruhender Tiger mit einer schönen Frau auf dem Rücken, blumenbekränzt und freundlich lächelnd. Zdenék, der ebenfalls zu den Stammgästen zählte und gut bekannt war mit Hrabal, sollte mir später erzählen, dass der traurige König der tschechischen Prosa sich in letzter Zeit nicht mehr so flott bewegt habe wie gewohnt. Das Alter und die Gicht in den Beinen und Händen piesackten ihn, wahrscheinlich Folgen eines jahrelangen übermäßigen Bier- und Schweinefleischkonsums. Die Zeiten, da er bekenntnishaft schrieb, er sei ein „Schellen-Ober, der mit der Schelle in der Hand unter der Sonne spaziere“, und voll Bewunderung für die Wirklichkeit, die er nicht ändern wolle, da er sie nicht geschaffen habe und die bereits da war, bevor er da war und er sich nichts anderes wünsche, als diese widerzuspiegeln, weil selbst in den furchtbarsten Ereignissen Schönheit enthalten sei, lagen hinter ihm. Hrabal habe sich, so Zdenek, in letzter Zeit stets mit einem Taxi zum Goldenen Tiger chauflieren lassen und habe dann mit Hilfe eines Stockes die Stufen zum Eingang erklommen. Auch Zdenék, der zu Weihnachten 2006 in Brloh bei Krumau, wo er zuletzt lebte und arbeitete (immer wieder besucht und umhegt von seiner treuen Freundin Väclava Skälovä aus Prag), an Lungenembolie gestorben ist, war übrigens mit einem von ihm gemalten Bild im Goldenen Tiger vertreten, und zwar im kleinen Raum hinter der Ausschank, wo es zu den Toiletten geht. Ich müsste wieder einmal hinschauen, ob das Bild noch vorhanden ist, aber ich fahre nicht mehr nach Prag, nachdem all die Freunde, die ich dort kannte, entweder weggezogen oder gestorben sind und der Massentourismus den Charakter der Innenstadt verdorben hat. Mit Zdenek, der in diesen Tagen, da ich dies schreibe, 70 Jahre alt geworden wäre, stand ich in einem regelmäßigen Kontakt. Seine Kuverts und Briefe waren sorgfältig gestaltete Kunstwerke, seine Sprache ein surreales Esperanto aus Deutsch, Englisch und Tschechisch, witzig, ironisch, dadaistisch. Auf einem Foto aus dem Jahr 1988, das er mir einmal aus Prag schickte, sitzen er und Hrabal in einer förmlichen Distanz an einem Tisch, „beim ersten Bier“ wie er schrieb, in der Krusovickä Hospoda „Breälka“ in der Prager Altstadt. „Schüzky s panem B. Hrabalem u piva“ hatte er unter das Foto geschrieben, Zusammenkunft mit Herrn B. Hrabal beim Bier. Jeder wohl inmitten seiner „allzulauten Einsamkeit“ und diese vielleicht sogar zelebrierend. Als ich am 30. oder 31. Dezember 1996 die Kulturseiten der Lidové noviny aufschlug, hatte ich vor mir ein Foto, das Hrabal im Krankenbett zeigte. Neben ihm, auf der Bettkante saß Jiti Menzel, der begonnen hatte, an der Verfilmung des Hrabal-Romans Ich hab den englischen König bedient zu arbeiten. Nur wenige Tage nach Beendigung meines Aufenthalts in Prag sollte mir Zdenék berichten, sein manchmal sehr schweigsamer Zechkumpane Bohumil Hrabal sei im Spital beim Taubenfiittern aus dem Fenster gefallen. Diese offizielle Version hielt sich lange, bis doch Zweifel aufkamen. Auch heute ist noch nicht geklärt, ob sich der Dichter mit Absicht und bei vollem Bewusstsein, verzweifelt über seine Lage, aus dem Fenster des Spitals gestürzt habe oder dies tatsächlich beim Taubenfüttern geschah (da er nicht mehr zu seinen Katzen nach Kersko fahren konnte, hatte er, im 4. Stock des Spitals untergebracht, Tauben seine Fürsorge zuteil kommen lassen). Die letzte Ölung, schrieb er einmal, wolle er sich selber mit Pilsner Bier erteilen. Dazu wird es wohl nicht mehr gekommen sein. Bohumil Hrabal war nicht mehr und schon standen die Züge still. In den Medien hieß es zwar: Streik der Eisenbahner für den sofortigen Rücktritt des Managements der Ceske drahy (CD), gegen die Kündigung von Arbeitern und gegen das Stilllegen von Bahnlinien; ich aber glaubte nicht ganz dieser ofliziellen Version. Die Eisenbahner streikten und trauerten zugleich um einen der ihren, um einen, der von 1941 bis 1945 bei der staatlichen Eisenbahn in verschiedenen Stellungen gearbeitet und später mit seiner Novelle Ostre sledovane vlaky (zu Deutsch Reise nach Sondervorschrift, Zuglaufüberwacht (von Jiot Menzel verfilmt) die tschechische Eisenbahn weltberühmt gemacht hatte. Ludvik Kundera dichtete und trank Tee. Trank Tee und widmete sich der aleatorischen Gestaltungstechnik der Décalcomanie. In Olomouc, beim Poesiefestival Poezie bez hranic, wo ich ihn kennenlernte, präsentierte er seine Gedichte zwischen den Handlungen einer von ihm ausgedachten Teezeremonie. Er hatte aber auch nichts gegen das Rotweintrinken. Alles zu seiner Zeit. Als ich einmal eigens mit dem Autobus von Brünn nach Kunstät reiste, um ihn zu besuchen (wir hatten gelegentlich korrespondiert und Bücher ausgetauscht), waren wir bald beim Rotwein angelangt. Nicht, dass wir das Betrachten seiner Bilder oder das Gespräch über seine Poesie und sein erfülltes Leben vernachlässigt hätten. August 2014 79