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die Emigration nach China nur marginal erwähnt, meist mit dem knappen Hinweis auf Einzelschicksale. Ziel dieses Projektes ist es, mehr über die aus den Regionen Mecklenburg und Pommern nach China geflüchteten Juden zu erfahren. Es soll die Anzahl aller Flüchtlinge erfasst werden. Die Verfolgungszeit in Deutschland und die Lebensumstände in China sollen thematisiert werden. Ebenso sollen die Verhältnisse für Rückkehrer nach Deutschland - Ost und West — näher untersucht werden. Um Geschichte lebendig werden zu lassen, wird auf die Erforschung von Einzelschicksalen besonderer Wert gelegt werden. Anhand der Evelyn Adunka Darstellung von Biografien bzw. Familienschicksalen kann inzwischen Jahrzehnte vergangenes Unrecht auch für junge Menschen begreifbar werden. Ein Schritt in diese Richtung war die Erforschung der Lebensgeschichte von Carl und Paula Anger. Der Fund von fast 2.000 Büchern in Shanghai vor einigen Monaten, die mit Carl Anger in Zusammenhang stehen, sorgte weltweit für Aufsehen. Daraufhin begann sowohl in Shanghai als auch in den mecklenburgischen Städten Güstrow und Schwerin eine Spurensuche, die zu erstaunlichen Ergebnissen führte. (Meng Yang berichtete davon in ZW Nr. 1/2014, S. 31-32). Diese Recherchen lassen einmal mehr erkennen, wie viel man durch gezieltes Nachforschen zu Einzelschicksalen in relativ kurzer Zeit herausfinden kann. Eine Ermutigung, zu den Schicksalen der inzwischen 253 bekannten Personen mit Bezug zu Mecklenburg und Pommern weiter zu forschen. Wer Hinweise zu Personen aus den Regionen Mecklenburg und Pommern, die während der Zeit des Nationalsozialismus nach China emigrierten, geben kann oder das Projekt in anderer Hinsicht unterstützen möchte, wird gebeten, sich mit Falk Bersch (E-Mail: falk. bersch@freenet.de) in Verbindung zu setzen. In Österreich gibt es zwei international bedeutende, gut dotierte jüdische Museen, in Wien und in der kleinen Stadt Hohenems in Vorarlberg. Das Wiener Jüdische Museum eröffnete am 31. März die große von Marcus G. Patka kuratierte Ausstellung „Weltuntergang. Jüdisches Leben und Sterben im Ersten Weltkrieg“, zu der im Styria Verlag ein umfangreicher Katalog erschien. Das Museum in Hohenems, das seit 2004 von Hanno Loewy geleitet wird, eröffnete am 23. März die Ausstellung „Die ersten Europäer. Habsburger und andere Juden - eine Welt vor 1914“, kuratiert und initiiert von Felicitas Heimann-Jelinek und Michaela Feurstein-Prasser. Der Katalog erschien im Wiener Mandelbaum Verlag. Der Ausstellungsarchitekt ist Martin Kohlbauer. Hanno Loewy, der bis 2000 Gründungsdirektor des „Fritz Bauer Instituts“ in Frankfurt am Main war, kuratierte 2009 zusammen mit Gerhard Milchram, der heute im Wien Museum arbeitet, die Ausstellung „Hast du meine Alpen gesehen? Eine jüdische Beziehungsgeschichte“, begleitet von einem informativen Katalog, die 2009/10 nach Hohenems auch im Jüdischen Museum Wien und 2010/11 im Jüdischen Museum München gezeigt wurde. Loewy ist Präsident der Association of European Jewish Museums. Lesern der ZW wird der Name seines Vaters, des Exilforschers Ernst Loewy (1920 — 2002) bekannt sein; die Autorin rezensierte in der Zeitschrift dessen Briefe an die Eltern 1935-1938 (Nr. 1, Mai 2002). Der Katalog „Die ersten Europäer“ enthält Essays von den beiden Kuratorinnen, von Diana Pinto, Erik Petry, Joshua Teplitsky, J. Friedrich Battenberg, Fritz Backhaus und Mark H. Gelber. Loewy, der als Intellektueller im Feuilleton in die aktuellen Debatten eingreift, nimmt in seinem Vorwort auf die gegenwärtige Krise Europas Bezug: „100 Jahre nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs steckt Europa erneut in einer tiefen Krise. Die Entwicklung gemeinsamer Institutionen und Werte erscheint umstrittener denn je. So wird die Idee Europa zugleich von innen wie von außen in Frage gestellt. [...] 100 Jahre nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs stellt das Jüdische Museum Hohenems diese selbstgerechte und selbstzufriedene Weigerung, Europa als Zukunft zu denken, mit einem Blick in die Vergangenheit in Frage.“ Entfaltet wird, wie Loewy schreibt, „ein assoziatives Panorama der jüdischen Welt des Habsburgerreiches“, in dem die Juden „zugleich lokale Patrioten, glühende Anhänger der Habsburger, Europäer und Weltbürger“ waren. Die renommierte in Paris lebende Historikerin Diana Pinto, eine Absolventin der Harvard University, verneint in ihrem Essay die Frage, ob die Juden tatsächlich die ersten Europäer waren. Sie formuliert den Befund: „Ob als Kapitalisten oder als Revolutionäre im 20. Jahrhundert, Juden identifizieren sich stattdessen mit internationalen, grenzenlosen Idealen - und Europa war nicht darunter.“ Die Ausnahme war, wie Pinto anmerkt, Stefan Zweig. Der Stefan Zweig-Experte Mark H. Gelber beschreibt in seinem Essay das kulturzionistische Engagement des Schriftstellers, sein Engagement für den Aufbau der Hebräischen Universität in Jerusalem, aber auch seine spätere Distanz zu Martin Buber. Gezeigt werden in der Ausstellung „jüdische Kaufleute und Bettler, Rabbiner und Erfinder, Hausierer und Bankiers, Eisenbahnpioniere und Künstler, Arbeiter und politische Visionäre“ (H. Loewy). Eine Angabe im Kapitel über Eisenbahnpioniere ist falsch. Michaela FeursteinPrasser schreibt, dass sich die Statue von Baron Rothschild, die die Ankommenden am Wiener Nordbahnhofbegrüßte, im Wiener Technischen Museum steht. Sie befindet sich seit Herbst 2013 als Dauerleihgabe in der neuen Dauerausstellung des Wiener Jüdischen Museums. Erstmals sind in der Voralberger Ausstellung sechs wunderschöne Objekte aus der Sammlung Ariel Muzicant zu sehen, beschrieben von Felicitas Heimann-Jelinek, bis 2011 Chefkuratorin des jüdischen Museums der Stadt Wien. Die Objekte, ein Tora-Schild, ein Tora-Vorhang eine Tora-Krone, stammen aus Hermannstadt in Rumänien, aus Silistra in Bulgarien, aus Kolozsvar in Siebenbürgen und eine Spendenbüchse aus Gyarmat in der heutigen Slowakei. Das letzte Objekt der Sammlung Muzicant, die derzeit von Felicitas Heimann-Jelinek und Michaela Feurstein-Prasser inventarisiert wird, ist das Ölgemälde „Der Kabbalist“ von Isidor Kaufmann. Beschrieben wird es im Katalog von Gabriele Kohlbauer Fritz, der derzeitigen Sammlungsleiterin des Wiener Jüdischen Museums. Eines der Ausstellungsobjekte ist das Fotoalbum der Familie Erdheim aus Boryslaw und Drohobycz, das von Claudia Erdheim zur Verfügung gestellt wurde. Die in Wien lebende Schriftstellerin hat ihre Familie in dem Buch „Längst nicht mehr koscher“ (Czernin Verlag 2006) beschrieben und ihre Fotos aus dem Album in der zweiten Auflage dieses Buches und in dem Fotobuch „Das Stetl“ (Album Verlag 2008) veröffentlicht. Der Katalog ist zugleich auf Deutsch und Englisch erschienen. Die Ausstellung ist bis zum 5. Oktober zu sehen. Der Schutzumschlag ist inspiriert von der Buntheit der europäischen Farben und Fahnen, die auch in der Ausstellung verwendet werden. Das Buch selbst ist in einem wunderschönen Blau gehalten. Die Qualität der Texte und der Abbildungen machen es zu einer preiswürdigen Neuerscheinung. Felicitas Heimann-Jelinek, Michaela FeursteinPrasser (Hg.): Die ersten Europäer. Habsburger und andere Juden — eine Welt vor 1914. Wien: Mandelbaum Verlag 2014. 183 S. Euro 34,90 August 2014 83