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wenigen Stellen wird ein Einfluss des Niederländischen spürbar. Auch Tipp- oder Schreibfehler sind so selten, dass man sie hier gar nicht erwähnen würde, stünden nicht einige dieser wenigen augenscheinlich gerade in der Erstveröffentlichung eines Briefes von Canetti (S. 358). Die wenigen vorkommenden Unstimmigkeiten fallen zwar nicht ins Gewicht, einige davon werden hier aber beispielhalber doch erwähnt: Beim informell so genannten Flämischen handelt es sich nicht um eine „im Niederländischen verwurzelte Sprache“ (S. 9), sondern um den belgischen Standard des Niederlandischen; das Tagebuch der Anne Frank ist nicht der „Vorkriegsgeschichte“ zuzuordnen (S. 62); Juden haben sich in den Niederlanden nicht erst im 17. Jahrhundert angesiedelt (S. 43), sondern bereits Ende des 16. Jahrhunderts; Bols ist zwar einer der ältesten, aber nicht der älteste bestehende niederländische Betrieb (S. 300). Solche Fehlmeldungen sind unwesentlich für das Buch - störend hingegen können Ungereimtheiten empfunden werden, die mit Österreich zu tun haben. Als ob es da einen blinden Fleck gäbe, treten diese gehäuft auf. So wird behauptet, dass Roth und Zweig zur Emigration gezwungen gewesen seien ($.30) — beide emigrierten aber in weiser Voraussicht bzw. aus Solidarität, schon bevor sie dazu gezwungen wurden. Anna Mahler, die doch mit mehreren (Exil)-Schriftstellern in regem Kontakt war und daher für das Thema nicht ganz unwesentlich ist, wird nur als „die Tochter Gustav Mahlers“ erwähnt (S. 115). Coudenhove-Calergi wird mehrmals (S. 159 und 385), Bruno Walter einmal (S. 221) als Ungar bezeichnet. Beide hatten neben ihrer österreichischen Staatsbürgerschaft im Laufe ihres Lebens mehrere andere, eine ungarische befand sich aber nicht darunter, auch bestand bei keinem der beiden eine nähere familiäre Beziehung zu Ungarn. Dass der „Anschluss“ Österreichs an das Dritte Reich meist ohne die sonst üblicherweise aus gutem Grund verwendeten Anführungszeichen vermeldet wird, dürfte eher einer Unachtsamkeit entspringen, denn zweimal erscheint das Wort doch wieder mit Anführungszeichen. (Warum umgekehrt die Neutralität der Niederlande im Ersten Weltkrieg nur als „Neutralität“ beschrieben wird, bleibt dem Leser verschlossen.) Obwohl im Text oft deutlich zwischen Deutschland und Österreich unterschieden wird, undauch der Ausdruck „deutschsprachige Literatur“ mitunter verwendet wird, scheint die Autorin unter „deutscher Literatur“ die deutschsprachige zu verstehen, wenn z.B. als Vertreter der deutschen Literatur einmal (S.45) vier Autoren genanntwerden: Roth, Musil, Kesten und Broch, oder wenn Schnitzler als deutscher Autor erwähnt wird (S. 68). Es ist ja durchaus möglich, die Meinungzu vertreten, es gäbe keine österreichische Literatur, deutsche Literatur sei identisch mit der deutschsprachigen. Doch wenn man diese (sehr wohl durchaus anfechtbare) Position vertritt, sollte man sie auch explizit definieren. Andringa, die in ihrem Buch die österreichische Literatur unnuanciert als deutsche Literatur darstellt, tut das jedoch nicht, obwohl sie andererseits die niederländische Literatur auf die Niederlande beschränkt, die niederländischsprachige Literatur Belgiens davon ausschließt. Damit wird aber der Titel ihres Buches problematisch, denn mit dem ,,niederlandisch-deutschen Beziehungsgeflecht“ meint sie offenbar einerseits den Staat der Niederlanden und andererseits den deutschen Sprachraum. Eine Klärungdieser verwendeten Begriffe hätte im Buch, in dem anderen allgemeinen Überlegungen sehr wohl viel Platz eingeräumt wird, ihren Niederschlag finden müssen. Els Andringa würdigt gegen Ende ihres Werkes die Rolle von Hans Keilson (1909 — 2011), der schon durch sein langes Leben die Briicke in die Gegenwart schlug. Die Autorin hatte noch mehrfach Gelegenheit, mit diesem bedeutenden Exilautor direkt in Kontakt zu treten, wodurch dieses Kapitel zusätzliche Authentizität beanspruchen kann. Leider wird ganz zum Schluss noch ein Kapitel über Europavisionen angefügt, dessen Relevanz für das Ihema des Buches nicht ganz einsichtig ist. Immerhin istes dann wieder bemerkenswert, dass in diesem abschließenden Abschnitt eines Buches über deutsche Exilliteratur die vier zuletzt genannten Autoren Zweig, Roth, Musil und Canetti heißen. Trotz aller Einwände ist Andringas Buch insgesamt ein gutes, interessantes, schr wichtiges und wertvolles Werk. Hätte es noch eine zusätzliche sorgfältige Endredaktion gegeben, wäre es kein gutes, sondern ein ausgezeichnetes Buch geworden. Georg B. Deutsch Els Andringa: Deutsche Exilliteratur im niederländisch-deutschen Beziehungsgeflecht. Eine Geschichte der Kommunikation und Rezeption 1933-2013. Berlin, Boston: Walter de Gruyter 2014. 439 S. Euro 99,95 Eine nachdrückliche Leseempfehlung Richard Berczellers Erinnerungen und autobiographischen Erzählungen zeichnen sich durch einen wunderbar lebendigen, humorvollen und detailreichen Tonfall aus, was sie zu besonders berührenden und authentischen Zeitzeugnissen macht. Der 1902 in Sopron geborene Sohn des sozialdemokratischen Gemeinderats und Gründers der Ödenburger Kreis-Arbeiterversicherungskasse Adolf Berczeller (1877 — 1966) studierte in Wien Medizin, war engagierter Sozialdemokrat und ab 1930 praktischer Arzt in Mattersburg. In seiner Autobiographie „Die sieben Leben des Doktor B. Odyssee eines Arztes“ (1965) beschreibt er vor allem das Studium in Wien, das Exil und die Internierung in Frankreich, in der Cöte d’Ivoire und in Casablanca, die erste Zeit in New York und einen kurzen Besuch in der verlorenen Heimat. Der zweite Band „Verweht“ (1983) enthält berührende Schilderungen aus der jüdischen Gemeinde von Mattersburg, etwa die Geschichte, wie der Rabbiner den neuen Arzt prüfte und beurteilte, ob er für seine Gemeinde geeignet sei. „Unser Doktor ist ein geheimer Zaddik“ (Gerechter), erklärte er danach. Berczeller blieb bis zu seinem Tod 1994 mit dem Burgenland und mit Österreich verbunden, das er oft besuchte und von dem er mehrfach ausgezeichnet wurde. In New York war er Mitglied des „Associated Austrian Relief Committee“ und Chairman des „Austrian Labour Comittee“. Die Rückkehr, die ihm angeboten wurde, lehnte er aus familiären Gründen ab. Zu seinem 90. Geburtstag erschien eine von Joachim Riedl herausgegebene Festschrift mit dem Titel „Denn sie töten den Geist nicht, ihr Brüder“, die auch einige Beiträge zum burgenländischen Judentum enthält. 1994 veranstaltete das Literaturhaus Mattersburg eine Ausstellung und ein Symposion, die, herausgegeben von Traude Horvath und Milenia Snowdon-Prötsch, auch in Buchform dokumentiert wurden. 1980 erschienen Berczellers gesammelte Geschichten für den „New Yorker“, „A Trip into the Blue & Other Stories“, in Buchform. 2012 folgte die deutsche Übersetzung von Jacqueline Cuss im Czernin Verlag. Berczeller erzählt von einem jüdischen Bäcker, vom Wahlkampf für den Gemeinderat, für den sein Vater kandidierte, von seinen Patienten und von der jüdischen Feuerwehr. Er dokumentiert, wie gut das Zusammenleben zwischen der jüdischen und der nichtjüdischen Bevölkerung bis 1938 war und die tiefe Achtung des sozialdemokratischen Arztes vor seinen streng religiösen Patienten. Peter Berczellers Buch nun, „Der kleine weiße Mantel“ im Metro Verlag, übersetzt von Elisabeth M. Bartosch, zeigt, wie sehr der Autor das medizinische und das schriftstellerische Talent seines Vaters geerbt hat. In den außerordentlich präzisen, lebendigen und lesenswerten Erinnerungen beschreibt Berczeller die Kindheit in Mattersburg, die politischen Unruhen, die Untaten der Nationalsozialisten und die schweren Studien- und Arbeitsbedingungen in den USA. Ironisch und liebevoll erzählt er von denMarotten einiger älterer Familienmitglieder und in manchen Passagen wird das Buch zu einer medizinhistorischen Quelle. Der Name seines Vaters und großen Vorbilds, den der Autor liebevoll August 2014 91