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Lebzeiten eher am Rande oder außerhalb der St. Pöltner Gesellschaft standen, nicht nur in der Zeit des Nationalsozialismus, sondern wohl auch kurz davor und kurz danach.“ — Insgesamt 190 Menschen aus acht Nationen. In aufwändiger Archivarbeit hat er alle Namen, Todesdaten und Todesursachen erhoben. Die Namen stehen auf unserer Website www. Juden-in-St-Poelten. at, damit die Angehörigen eine Chance haben, nach 70 Jahren doch noch das Grab ihrer Verwandten zu finden. Denn die Gedenkinstallation, die die Abteilung Kunst im Öffentlichen Raum des Landes NÖ in Viehofen errichtet hat, genügt hier nicht. Ein Grabstein mit allen Namen ist immer wieder im Gespräch, ich hoffe auf baldige Realisierung durch die Stadt St. Pölten. Mit seinen Recherchen und Publikationen hat Manfred Wieninger aber nicht nur die Opfer vor dem Vergessen bewahrt, sondern auch den wenigen Rettern und Helfern ein Denkmal gesetzt. Schwester Andrea, geboren als Ursula Skafar, von den Barmherzigen Schwestern in Graz, rettete im April 1945 als Krankenschwester im St. Pöltner Krankenhaus die jüdische Familie Teddy Arnold Aus einem gewöhnlichen Leben In druckfertige Form gebracht von seiner Tochter Daphna Amit. Aus dem Englischen von Daniel Müller. Um zwei Uhr saß ich mit meiner Familie zu Tisch. Nach der Suppe empfand ich das Bedürfnis, eine Frage zu stellen; also stellte ich sie. „Mutti, sind wir Christen oder Juden?“ Ich war damals ungefähr fünf oder etwas jünger, und meine um drei Jahre ältere Schwester brach in höhnisches Gelächter aus. Meine Mutter wies sie zurecht: „Hannah, es gibt keinen Grund, warum Teddy das wissen sollte. Ich glaube nicht, dass in seiner Gegenwart je darüber gesprochen wurde.“ Erstens das und zweitens wurde das Wort Gott, soweit ich mich erinnere, nie erwähnt. Ich war ein kleiner Ungläubiger, wurde sozusagen, was meine Eltern anging, künstlich im Reagenzglas gezüchtet. Dies hielt mich jedoch nicht vom Lauschen ab: Ich musste die Worte wohl vom Dienstmädchen oder vom Koch gehört haben und wusste durchaus, dass manche Menschen dies und andere jenes waren. Ich erwartete die Antwort. Es dauerte einige Zeit, bis sie kam. Nach einiger Zeit sagte meine Mutter endlich: „Wir sind Juden.“ Die Wartezeit ließ mich vermuten, dass die Antwort einigermaßsen wichtig war, was in der Tat im Wien des Jahres 1919 auch stimmte — und später umso mehr. Lieber LeserInnen, diese kleine Episode erzähle ich nur aus einem einzigen Grund: Zeit meines Lebens, das zum großen Teil von meinem Jüdischsein bestimmt war und später davon, Israeli zu sein, bin ich nie aus freien Stücken Jude gewesen. Als Jugendlicher, nachdem ich einige Erfahrung in Sachen Religion und Nationalität gesammelt hatte, wäre ich, wenn das möglich gewesen wäre, aus dem Judentum ausgetreten: Ich hätte mir gewünscht, ein menschliches Wesen ohne zusätzliches Etikett, ein Weltbürger zu sein. Ich akzeptierte meine Nationalität gezwungenermaßen. Ohne anfänglichen Bezug zu Religion und Nationalität entwickelte ich keine frühzeitige Voreingenommenheit, keinen Hass 6 _ ZWISCHENWELT von Dr. Ernst Balog, Lagerarzt im Vichofener Zwangsarbeitslager, indem sie sie im Spital in einer kleinen Wäschekammer versteckte. Der Enkel von Dr. Balog, Miki Granski aus Israel, besuchte vor einigen Jahren St. Pölten und hat sich, ich kann es nicht anders ausdrücken, liebevoll von Manfred Wieninger betreut, die Stätten des Wirkens und Leidens seiner Mutter, Tante, Großeltern und Urgroßmutter angesehen. Bei solchen Begegnungen tritt dann hinter dem Aufdecker, Historiker, Journalisten und Schriftsteller der Mensch Manfred Wieninger hervor. Im Jiddischen gibt es diesen Ausdruck „ein mentsch sein“ — das heißt, einer, der unserer Spezies Ehre macht. Sie werden ihn jetzt im Gespräch mit Konstantin Kaiser kennenlernen. Martha Keil, Univ.-Doz., Dr., seit 1988 am Institut für jüdische Geschichte Österreichs tätig, ist seit 2004 dessen Direktorin. Sie veröffentlichte u.a. zusammen mit E. Brugger, Chr. Lind, A. Lichtblau, B. Staudinger 2006 die „Geschichte der Juden in Österreich“. gegenüber irgendeiner religiösen oder nationalen Gruppe. Das befähigte mich zu größerer als der gemeinhin herrschenden Objektivität in puncto Beobachtungsgabe und Meinungsbildung. Meine Geschichte ist also subjektiv (wie es nicht anders sein kann) weder getrübt von Bigotterie noch, wie es so schön genannt wird, von einem nationalen Anliegen. Zu allererst, meine Eltern lagen altersmäßig eine Generation auseinander. Mein Vater wurde 1866 geboren, meine Mutter 1885. Dieser Abstand ist viel bedeutender, als es auf den ersten Blick scheinen mag: Innerhalb einer einheitlichen kulturellen Stufe ist ein Unterschied eine Zeitspanne, und das ist alles. Meine Mutter wurde in Wien geboren, aufgezogen und gebildet, Deutsch war ihre Muttersprache, und sie war sich der Probleme des Fin de Siecle aus einer westlichen Perspektive bewusst. Mein Vater wurde in der südostpolnischen Stadt Tarnöw geboren, das damals noch zu Österreich gehörte. Seine frühe Kindheit verbrachte er in einer sehr engen, festgefügten, puritanisch-religiösen jüdischen Gemeinde. Die Sprache war Jiddisch, Bildung und Perspektive mittelalterlich. Mein Vater lernte, wie alle anderen auch, Hebräisch im Cheder. In der Volksschule kam Deutsch dazu - eine dritte Sprache also im Alter von sechs Jahren. Ich zweifle nicht daran, dass mein Vater einige traumatische Erfahrungen innerhalb der Grenzen des orthodoxen jüdischen Lebens machen musste. Er hat mir nie davon erzählt. Aber er muss schon in frühen Jahren rebelliert haben. Er besuchte ein nichtjüdisches Gymnasium, wo er noch zusätzlich zu den ersten drei Sprachen Französisch und Latein lernte. Und was noch wichtiger war, er atmete die frische kalte Luft, die seit 1848 von West- und Mitteleuropa her wehte. Die Versprechen von Demokratie und Liberalismus, die Hoffnung auf Freiheit und Menschenwürde — all das wurde getragen von diesem Wind. Polen, das am Beginn dieses Jahrhunderts praktisch nicht existierte, betrachtete das Russische Kaiserreich im Osten als Inbegiff der Sklaverei und der Regression. Die österreichische Monarchie, selbst kaum eine