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Fahnenträgerin des Fortschritts, zeigte wenigstens eine gesunde Neigung zu Demokratie und Pluralismus. Es gab den Landtag, ein sich entwickelndes Parlament der vielen Nationen, eine mehr oder weniger freie Presse und eine Überfülle an Literatur, die mit ihrem gesunden Sarkasmus die Mächtigen kritisierte. Ich weiß nicht, wie mein Vater die eiserne Hand der Religion, den jüdischen Traditionalismus und die Feindseligkeit des durchschnittlichen polnischen Intellektuellen Juden gegenüber überwinden konnte. Ich stelle es mir als harten Kampf vor, aber überwunden hat er es. Er absolvierte das Provinzialgymnasium und studierte Jus an der Universität Kraköw — österreichisches Recht, selbstverständlich. Er zog nach Wien, das von vielen als Mittelpunkt deutscher Kultur und Zivilisation angesehen wurde, und arbeitete dort als Anwalt. Seine Abneigung gegen jüdisches Schtetl-Leben und Provinzialismus sowie seine Sehnsucht nach Freiheit und Fortschritt müssen schr stark in ihm gewirkt haben. Seine Familie war arm, teilweise sogar bitterarm — es muss also während der ganzen Zeit ein harter Kampf gewesen sein. Und als er das gelobte Land erreichte, war es nicht da. Er kam in das Wien von Lueger und Schöneres, in die Wiege des europäischen Antisemitismus. Es war ihm kein wie auch immer gearteter Scheinerfolg gegönnt. Er half mir bei Latein, als ich fünfzehn oder sechzehn war — fünfzig Jahre, nachdem er selbst damit begonnen hatte. Nie erreichte ich auch nur ansatzweise seine Vertrautheit mit dieser Sprache. Nicht weniger schwierig musste es gewesen sein, ein erfolgreicher Anwalt in Wien zu werden. Er hatte keinerlei Beziehungen, kein Geld - und er war ein Jude aus Tarnöw. Er sprach und schrieb schönes Hochdeutsch, hatte allerings einen ganz leichten Akzent. In Wien sprachen nur Juden Hochdeutsch. Meinen Vater verlangte nicht danach, respektiert zu werden — das geschah ganz von allein. Er war groß gewachsen, gut aussehend und gut gekleidet. Er muss in dieser Zeit, trotz seiner Schüchternheit, ein Mädchenschwarm gewesen sein. Ich glaube, er hat mich sehr gern gehabt, obwohl er nur selten mit mir sprach. Wahrscheinlich wollte er keinen Einfluss auf mich ausüben, da er selbst sehr unsicher war. Er hatte der Gesellschaft zweimal den Rücken gekehrt, die jüdische und polnische zurückgewiesen und sich eine dritte ausgesucht, in der er sich fremd fühlte. Darüber hinaus war er mit einer echten Wiener „Emanze“ und radikalen Zionistin verheiratet. Die Eltern meiner Mutter kannte ich, und sie halfen mir, abgeschen vom dauerhaften Finfluss, den sich auf mich hatten, meine Mutter zu verstehen. Sie lebten in der Wiener Vorstadt Gersthof. Man konnte von dort aus zu Fuß in zehn Minuten die kleinen Wege in den Wienerwald erreichen. Mein Großvater Leon Kellner war ein allseits bekannter Mann in der jüdischen, vor allem aber in der zionistischen Community und bei allen Shakespeare-Forschern auf den ganzen Welt. Er war es, der von allen Männern, die ich je kannte, den größten und dauerhaftesten Einfluss auf mich ausübte. Jedes ernsthafte Problem, das sich mir stellte, führte automatisch und zu allererst zu der Frage: Wie wäre Großvater damit umgegangen? Er kam wie mein Vater Max in Tarnéw zur Welt, im Jahre 1858. Aber seine Umstellung gestaltete sich einfacher als die meines Vaters. Von Anfang an verfolgte er seine eigenen Uberlegungen. Er glaubte nicht ans geschriebene Wort. Nun, die Autorität des geschriebenen Wortes ist ein machtiges Tabu im jüdischen Leben, und es muss ein schr ungewöhnliches Kind sein, das der eigenen Erkenntnisfähigkeit, dem eigenen Augenschein mehr traut als der Heiligen Schrift. Und genau das hat mein Großvater getan. Die Talmudschüler, eine Schar von Acht- und Neunjährigen, saßen eines schönen Morgens Ende Mai, den man besser im Freien verbracht hätte, in der Klasse und lauschten, mehr oder weniger aufmerksam, den Worten des Lehrers, der gerade eine der schärferen Drohungen des Allmächtigen vorlas. Sie lautete in etwa folgendermaßen: „Wenn ihr, das Volk Israel, die Gesetze nicht achtet, die euch gegeben, so will ich euch aus der Erde reißen wie der Ochse das Gras aus der Erde reißt mitsamt den Wurzeln.“ Mein Großvater hörte zwar zu, sah aber nicht in den Text, da er neben dem Fenster saß, von wo er eine ausgezeichnete Sicht auf die sattgrüne Wiese hatte, auf der einige Ochsen und viele Kühe grasten nach ihrer Art. Mein Großvater meldete sich zu Wort: „Melamed“, sagte er, „der Ochse entwurzelt das Gras nicht. Er pflückt es mit seinen Lippen, ohne die Wurzeln auszureißen. Seht nur!“ Der Lehrer ermahnte meinen Großvater scharf. Er solle lieber ins Buch und nicht aus dem Fenster sehen: Die Wahrheit sei im Buch. Welche anderen Maßnahmen der Lehrer ergriff, ist mir nicht bekannt. Aber der Gegensatz zwischen der Evidenz des Buches und der Evidenz des Ochsen musste meinen Großvater beeindruckt haben. Er erzählte mir die Geschichte, ohne sie zu kommentieren. Ich habe sie nie vergessen. Mein Großvater hat mir viel erzählt, aber er hat mich nie belehrt. Er lehrte mich, Fragen zu stellen. Ich war etwa zwölf, als er mir erzählte, dass er und seine Mitschüler am Heimweg von der Schule immer an einem Kartoffelacker vorbeikamen. Sie hielten jedesmal an derselben Stelle und urinierten alle auf dieselbe Kartoffelpflanze. Einmal wurden sie dabei vom Bauern beobachtet. Er trat auf sie zu und sagte: „Ihr glaubt wohl], ihr tut diesen Pflanzen was Gutes. Sie werden absterben.“ Die Buben protestieren, beriefen sich auf Stickstoff als Düngemittel. Der Bauer lächelte. »Pinkelt nur weiter auf die Pflanzen. Sie werden absterben.“ Und so geschah es auch, sagte mein Großvater, innerhalb eines Monats. Warum? Ich dachte einige Zeit nach. Mein Großvater wartete. Dann antwortete ich ihm: „Der menschliche Körper benötigt Salz, aber zu viel ist schlecht für ihn. Vielleicht zu viel Stickstoff ...“ Großvater hob den Finger, als wollte er sagen: „Das könnte die Antwort sein.“ Aber er sprach kein Wort. Er hatte sein Ziel erreicht. Er übersprang einige Klassen und schloss sein Studium in Rekordzeit ab. Mit dreißig war er schon Professor. Wie er nach Bielitz kam, weiß ich nicht, aber er tat es und warb um Anna Weihs, der Schtetlschönheit, und war noch keine dreißig, als er sie heiratete. Die zweite Liebe seines Lebens war Shakespeare, den er studierte, interpretierte, übersetzte und kommentierte. Sein ShakespeareWörterbuch und seine Erläuterungen zum Werk des Dichters, Restoring Shakespeare, waren damals Standardwerke. Er predigte, dass Shakespeare niemals Unsinn geschrieben und stumpfsinnige Passagen durch schlampiges Abschreiben und Drucken entstanden seien. Er sah es als seine Aufgabe an, diese unklaren Wörter und Sätze zu erklären und aus Shakespeares Stücken zu entfernen. Als er starb, hatte er etwa die Hälfte „wiederhergestellt“. November 2014 7