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Ich musste meinen Großvater von frühester Kindheit an bewundert haben. Einmal, ich war ungefähr drei, beobachtete mich meine Mutter, als ich gerade dabei war, mir Haarlocken vom Vorderkopf auszureißen. Sie sagte: „Was in aller Welt tust du da? Tut das nicht weh?“ „Ja, sehr. Aber Großvater ist an dieser Stelle auch kahl.“ Ich erinnere mich an ihn als kleine, rundliche Person mit Spitzbart und froschähnlichem Gesicht, leicht hervortretenden, sehr hellen blauen Augen. Ungeachtet dessen war er ein autoritätseinflößender, dominanter Mann. Er wurde von allen respektiert und von denen geliebt, die ihn kannten. Als er 1928 starb, ging eine Welt für mich zu Ende, und ich musste mein Leben von vorne beginnen. Großmutter war das genaue Gegenteil von ihm. Sie muss umwerfend gewesen sein, als sie jung war, und war immer noch schön, als ich sie kannte. Sie hatte ein gutes Herz, war jedoch nicht sehr intelligent. Sie glich es aus durch ihre unendliche Energie. Sie sonnte sich im Ruhm, der auf sie strahlte, und wachte über Großvater wie ein weiblicher Zerberus. Seine Studien waren für jeden tabu — außer für mich. Ich denke, die Erklärung dafür ist, dass ich nie versuchte, mit ihm zu reden oder seine Aufmerksamkeit zu erheischen, während er arbeitete. Ich war mit eigenen Dingen beschäftigt, damit, eine Karte von Palästina zu studieren, die in Form eines riesigen Reliefs die ganze Wand bedeckte, oder damit, zu zeichnen und später, als ich es gelernt hatte, zu lesen. Es war himmlisch, wenn er seine Arbeit unterbrach, um mit mir spazieren zu gehen. Alle Menschen, die wir trafen, grüßten ihn auf ihre eigene Weise. Er fragte die ihre kleinen Gemüsegärten pflegenden Leute nach ihrem Befinden, lobte die Erfolge und bedauerte die Rückschläge. Im Wald konnte er mir die Namen aller Pflanzen sagen, aller Tiere, egal, ob in der Luft oder auf der Erde. Er lehrte mich, zu beobachten. Sein überraschend umfassendes Wissen über die Natur hätte man sich von einem Philologen nicht erwartet; mich aber überraschte es nicht. Großvater wusste es einfach. Meine Großeltern hatten drei Kinder. Meine Mutter Paula war die Älteste. Sie wurde 1885 geboren. Dora, die Mittlere, war, glaube ich, zwei oder drei Jahre jünger, und Viktor wurde 1896 geboren. Er kämpfte im Ersten Weltkrieg für die österreichische Armee, wurde schwer verwundet und kam in russische Kriegsgefangenenschaft. Er konnte aus Ostsibirien flüchten und erreichte Wien nach abenteuerlicher Flucht. 1920 zog er nach Palästina und ließ sich 1922 auf einem Bauernhof in Binyamina nieder, wohin ihm 1933 zuerst ich und später meine Eltern folgten. Meine Tante Dora, die mittlere der drei Geschwister, war die Talentierteste. Auch sie war atemberaubend schön, was, dessen bin ich mir sicher, ihr stürmisches Leben, weit über die Grenzen gewöhnlicher Probleme außergewöhnlich begabter Menschen hinaus, erschwerte. Sie war eine brillante Studentin mit einem phänomenalen Gedächtnis. Sie heiratete sehr jung, und zwar einen jüdischen Philosophen aus Berlin — schr gutausschend, sehr reich und wahrlich ein Philosoph (Walter Benjamin, Anm. Daphna Amit). Sie waren beide neurotisch, schrecklich launisch, und die Ehe hielt nicht lange (dreizehn Jahre, Anm. d. Übersetzers). Sie hatten einen Sohn, der sehr schén und sehr gescheit war. Ich hatte das Gliick, ihn kurze Zeit zu kennen, als wir beide schon erwachsen waren. Er hatte eine engelhafte Geduld und die Brillanz eines geborenen Redners. Er war die beste Gesellschaft, in der ich mich je befand. 8 — ZWISCHENWELT Meine Mutter war aktive Feministin. Und sie sah jiidisch aus. Sie studierte deutsche und englische Literatur- und Sprachwissenschaft mit der Perspektive, einmal Lehrerin zu werden. Ich vermute, sie erfasste die urspriingliche Bedeutung des Satzes ,,Alles, was du kannst, kann ich besser“. Sie lernte sogar Fechten. Meine Mutter hatte einen charmanten und noch dazu bezaubernden Verehrer. Ich bin mir nicht sicher, warum sie nicht heirateten, er schien so gut zu ihr zu passen — mit einer Einschränkung vielleicht: Er war nicht „etabliert“, das heißt, er war arm. Es mag aber auch sein, dass meine Mutter, mit 24 schon eine eher ältere Junggesellin, sich in meinen Vater verliebte. Es war ein stürmisches Liebeswerben und sie heirateten 1910. Überraschenderweise wurden die beiden Rivalen beste Freunde. Rückblickend verändert sich tatsächlich einiges im Verständnis der Dinge. Im Nachhinein kann ich mir zumindest ansatzweise vorstellen, warum mir meine Mutter, mit der mich eine viel nähere Beziehung verband, bei weitem rätselhafter erscheint als mein Vater, zu dem ich eigentlich fast gar keine Beziehung hatte. Mein Vater was das Sinnbild einer Generation - vielleicht in einem sehr extremen Maße. Ins Schtetl, das heißt ins Mittelalter, hineingeboren, schüttelte er den Staub von Jahrtausenden des Lernens und der Tradition ab und erreichte den sicheren Hafen des mitteleuropäischen Liberalismus — und siche, es war kein sicherer Hafen; es war überhaupt kein Hafen. Die harte Lektion führte ihn, seinen Instinkten schr zuwider, auf den schwierigen Weg des Zionismus. Seine mittleren Jahre verbrachte er in Wien, er gründete eine Familie, schuf sich ein komfortables Einkommen und kaufte für schwierige Zeiten dieses und jenes in Palästina — immer mit einem Auge aufden Notausgang schielend. Als er und meine Mutter 1933 ihre wahre geistige und kulturelle Heimat verließen, um den sicheren Hafen Palästina zu erreichen, war, siehe dal, auch Palästina kein sicherer Hafen. Es war überhaupt nicht so, wie er es sich erwartet und erhofft hatte. Teilweise, und nicht zum kleinsten Teil, war in Palästina überall das Schtetl. Meine Mutter andererseits war viel beständiger in dieser Hinsicht. Sie wurde in Wien geboren und wuchs dort auf. Wien war eine sehr disparate, polyglotte Stadt. Somit war es einfacher für eine Jüdin — oder einen Kroaten, eine Polin, einen Tschechen - Teil dieses Mosaiks zu sein, ohne besonders aufzufallen. Ihre schlesische Mutter sprach Schlesisch, gemischt mit ein paar Brocken Jiddisch, legte ihre Herkunft aber bald ab und sprach die Sprache, die alle Wiener Juden sprachen: Hochdeutsch. Ihr Vater (seine Muttersprache war galizisches Jiddisch) war außergewöhnlich sprachbegabt. Er redete Hochdeutsch mit Juden und Wienerisch mit Nichtjuden. Nur Juden sprachen in Wien auch zu Hause Hochdeutsch, und so ist meine Mutter aufgewachsen. Ich stelle mir ihr Leben während dieser Zeit nicht sehr ambivalent vor. Sie war eine Liberale, wie alle österreichischen Juden. Ebenso war sie österreichische Patriotin, wie alle anderen auch. Die Tatsache, dass diese beiden Einstellungen nicht gut miteinander zu vereinbaren waren, beunruhigte manche Geister erst, nachdem Österreich den Krieg verloren hatte. Meine Mutter war begeisterte Zionistin. Auf den ersten Blick scheint das einem österreichischen Patriotismus zu widersprechen, aber am Beginn des vorigen Jahrhunderts war das kein Problem. Österreich war zu dieser Zeit ihre Heimat, und kein Patriot zu sein, hieß ein Verräter zu sein. Zion hingegen war