OCR
einordnen können? [...] Ich bevorzuge weder meine türkische, noch meine deutsche Kultur. Ich lebe und sehne mich nach einer Mischkultur. [...] Am liebsten möchte ich indisch einschlafen als Vogel auf dem Rücken eines Elefanten und türkisch träumen vom Bosporus.“ Doch nicht nur fanden zahlreiche andere Themen Eingang in den Gedichtband. Auch dürfte Cyrak mit diesen Texten etwas für sich abgeschlossen haben, denn in ihren späteren Büchern scheint das Thema Zugehörigkeit, in derart persönlicher Form, nur noch am Rande auf. Fortan, aber teils auch schon in „Vogel auf dem Rücken eines Elefanten“, beschäftigte sie sich wenn, dann cher ganz allgemein mit Kulturunterschieden. Und dies mit ebenfalls beeindruckender Stichhaltigkeit und Sprachgewandtheit: „Das Salz kennt keine Nationalgerichte/ wer will nun wem/ die Grenzen/ in die Augen streuen“ (Zitat aus „Fremde Flügel auf eigener Schulter“). Außerdem machte sich spätestens in dieser zweiten Buchveröffentlichung das wohl wichtigste, sicherlich aber das ertragreichste "Ihema der Dichterin deutlich bemerkbar: Die Liebe, und zwar insbesondere deren geglückte Version, die jedoch auch nicht verheimlicht, dass sie manchmal Hand in Hand gehen muss mit Arbeit, Angst oder Ärger. Selten liest man Liebesgedichte von solch einer Intensität und Ehrlichkeit, die nicht lediglich der Anfangsverliebtheit oder dem Herzschmerz gewidmet sind, sondern dem Zusammenleben, der Treue, dem Vertrauen aufeinander. So wie „VORSTELLUNG“: „[...] wir werfen uns in Schale/ wir beide zusammen in eine/ die Anziehungskraft/ lässt nicht nach“. Oder „WIR BLEIBEN“: [...] wie wir uns sind/ mal Herz mal Galle/ wir bleiben/ einmal die Luft zum Einatmen/ einmal die Luft zum Ausatmen“. Dieser Lyrik wird also zu Recht, wie es in diesem Band unter dem Titel „SEIT WIR UNS EIN HERZ GEMACHT“ der Fall ist, auch in Zukunft zumindest ein Kapitel der jeweiligen Gedichtsammlungen gewidmet sein. Eine weitere schöne Tradition, welche die Dichterin für alle ihre kommenden Bücher fortgeführt hat, hängt wohl mit der soeben erwähnten zusammen und ist ebenfalls schon an diesem Band zu bewundern: Den Buchdeckel ziert die Abbildung einer Skulptur von Jürgen Walter. 1993 erhielt Zehra Gyrak den Förderpreis des Friedrich-HölderlinPreises, ein Jahr später, 1994, erschien ihr dritter Gedichtband „Fremde Flügel auf eigener Schulter“. In dieser Sammlung bilden Texte, die politische und gesellschaftliche Missstände aufzeigen, das Herzstück. Krieg, Hunger, Gewalt, Ausgrenzung und Geld kommen zur Sprache, zu einer Sprache nämlich, welche die Schuldigen entlarvt, aber ebenso die eigene Verantwortung offen legt. Da wird in der U-Bahn ein Fahrrad anstelle seines Besitzers verprügelt, der im Wissen als Außenseiter hierfür ein beliebtes Ziel zu sein, frühzeitig ausgestiegen ist. Ein großer Pharma-Konzern reagiert aufeine Hungersnot mit appetitstillenden Pillen. Oder es wird beschrieben „WAS POLITIKER SO REDEN“: „Sie reden « in und vor Massen/ [...] diese Hülsenfrüchte die innen faul [...] Und im Gedicht „LUROEGOZENTRISMUS“ stellt sich das lyrische Ich vor, als „[...] eine die sich überlegen überlegt/ wie die Welt die restliche/noch zu retten ist/ eine die sich nicht verstecken kann/ wenn sie kommen um zu fordern [...]“ Und wieder diirfen die Liebesgedichte nicht fehlen, sei es nun jenes Gedicht, das dem Band seinen Titel gibt oder „ZUSAMMENHANGE*, ein sich spiegelnder Text, in dem es heißt: „Wenn ich aufstehe folgt dein waches Auge mir/ und wenn ich mich 18 _ ZWISCHENWELT zum Schlafen niederlege/ will dein Atem meiner Ruhe nach/ aber weißt du daß wir hängen und schaukeln/ zusammen von früh bis spät [...]“. In „GEH-HILFE“ wiederum entgeht man sich nicht, weil man einander ständig auf die Füße tritt. Dazwischen taucht diesmal aber auch das vor schwarzem Humor strotzende „LIEBESPAAR BEIM SCHMAUS“ auf, in dessen Verlauf der Mann von der Frau mit einem Küchenmesser enthauptet wird. Das Buch wird von geschriebenen Porträts abgeschlossen: sieben Frauen, ein Gruppenporträt, fünf Männer. Besonders berührend: Das „FRAUEN-PORTRÄT VII“ mit dem Untertitel „Noch Zeit“, in dem eine alte „Frau Lehrerin“ bei der letzten Stunde ihr Leben schwänzt. Einige Jahre und Stipendien später kam im Jahr 2000 „Leibesübungen“ heraus, ein weiterer Gedichtband, der besonders in sich geschlossen ist. Nicht weiter verwunderlich also, dass man Zehra Cyrak 2001 den Hauptpreis des Adelbert-von-ChamissoPreises zuerkannte. In „Leibesübungen“ liegen die Themen der Gedichte so nahe, wie sie denn auch ihrer Leserin oder ihrem Leser gehen. Alles dreht sich darin um allgemeinmenschliche Themen wie Geburt, Kindheit, Altern, Freundschaft, Liebe, das Leben schlechthin und letztendlich auch den Tod. Neben einigen schr ernsten Texten fehlt es auch in diesem Band nicht an dem für die Lyrik Cyraks essentiellen Humor. Drei von ihr verfasste Zeilen bieten diesbezüglich einen erstaunlich schönen Vergleich: „Lachen ist wie ein Greis/ dem ist ein Sprung gelungen/ von einem Bein aufs andere [...]“ Wo es ums Leben geht, spielt folglich die Zeit eine wichtige Rolle, und das nicht nur im Kapitel „ZEITSPRÜNGE‘“. Schon „GNADE DER FRÜHEN GEBURT“ führt deutlich vor Augen, dass es alles andere als egal ist, wann und wo man das Licht der Welt erblickt. In einem anderen Gedicht wird dem Kind gesagt, dass seine „Kulturuhr“ schon liefe. Und in „BIN IN ARBEIT“ beendet das Ich seine gestresste Rede mit den Worten: „Einer fragte mich ‚was tust du?/ da zerschlug ich seine Frage/ ich zerschmetterte sie auf seinem Kopf/ die eine Uhr war“. Auch der - nicht nur morgendlichen — Selbstreflexion sind gleich ein paar Texte gewidmet: „Am Morgen habe ich/ die Kerzen meiner Träume ausgeblasen/ und habe noch Luft zum Stöhnen/ auf das neuangebrochende Alltäglich [...]“. Existenzielle Gedanken, die diesen Band durchziehen, machen auch, oder besonders vor der Alltagsroutine nicht Halt: „Ich wache auf/ am Morgen zuvor tat ich dies auch/ das erinnert mich von Tag zu Tag woran/ und lässt mich denken früh/ ans eigene Spät“ (aus: „LANGSCHLÄFERIN — MANCHMAL“). Das dem zuvor zitierten Gedicht verwandte „DERKRACH DIE STILLE DAS FEUERZEUG“ führt solche Überlegungen weiter, sodass es auch politisch gelesen werden kann. Die Diskrepanz zwischen Innen- und Außenbild wiederum zeigen in „ICH NICHT“ diese treffend formulierten Zeilen auf: „[...] das passt mir nicht zusammen/ wie ich mich euch gebe/ ohne wenn/ und ihr mich nehmt/ mit aber [...]“. Und mit „LÄNDERKUNDE“ wendet sich Zehra Cyrak noch einmal auf pointierte Art und Weise dem Thema Migration zu: Am Anfang steht „ein Wanderer“ aus dem sich nach und nach die Worte „Wand“, „Einwand“, „Einwanderer“ herauskristallisieren, bis schließlich nur noch „Ein-/w/anderer“ übrig bleibt. Im Jahr 2004 wurde Cyrak der Permi die poesia Multietnica Olbia, der Lyrikpreis von Sardinien, verlichen und 2008 im Berliner Verlag Hans Schiler „In Bewegung“ veröffentlicht, ein Band mit