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Richard Wagner Der Klassenkampf um den Menschen Die angeführten Zitate folgen der in der Nummer vom Jänner/Februar 1949 des ÖGB-Bildungsfunktionärs erschienen Auswahl: ÖGBBildungsfunktionär, Heft 11 (Jänner/Februar 1949, S. 8-11) und wurden von Sabine Lichtenberger zusammengestellt. Menschenbildung und Gesellschaft Seitdem Menschen leben, werden Menschen erzogen, gebildet. Auch die Tiere bilden, erziehen schon ihren Nachwuchs. Die Menschen besitzen aber bis heute noch keine klare Vorstellung davon, was sie in der Erziehung tun. Am wenigsten die „natürlichen“ Erzieher, die Eltern. Doch auch die beamteten Bildner, die Berufserzicher, die Lehrer, soweit sie sich Vorstellungen von ihrem Tun machen, — auch bei ihnen sind die Tätigkeit des Erziehens und das Bewußtsein davon zwei Welten, die oft weit auseinanderliegen. Und völlig gedankenlos, ganz ahnungslos betreiben die anderen Menschen täglich und stündlich Erziehung. Denn alle Erwachsenen erziehen, bilden ununterbrochen andere Menschen, auch wenn sie es nicht wissen. Es ist nur ein Gradunterschied in der Erziehung der „natürlichen“ Erzieher, der Berufserzicher, der Zufallserzicher. Sie glauben an verschiedenes. Aber im Wesen erziehen sie doch ziemlich gleich. Sie verhalten sich zu ihrem Erziehertum nicht viel anders als die Mehrzahl der Väter und Mütter zu ihrem Vater- und Muttertum: blind und schicksalhaft getrieben. (S. 13) Wenn die Ideale Glückseligkeit oder Humanität heißen, so werden diese Träume auch Ideale der Erziehung Das Denken über die Erziehung ist uralt. Wir haben sogar eine alte Wissenschaft der Erziehung: die Pädagogik. Aber wenn man die Erziehungsgedanken in der Geschichte der Menschheit nebeneinander stellt und vergleicht, so hat man ein buntes Spiel bunter Gedanken und Vorstellungen vor Augen, den Wirbeltanz eines von Willkür getriebenen Spieles. Was in einem Land, zu einer Zeit, von einer Menschengruppe gedacht wird, gilt in einem anderen Land, zu einer anderen Zeit, bei einer anderen Gruppe als Verbildung, ja Verderbnis aller Erziehung. Wenn man die sonstigen Gedanken der Menschen mit ihren Erziehungsgedanken vergleicht, so erkennt man, daß sich diese im Wesen gar nicht von den anderen Gedanken unterschieden. Die Erziehungsideologie einer Zeit ist auch nur ein Teil der Gesamtideologie. Wo von Gottähnlichkeit und Tugend geschwärmt wird, gilt dies als Sinn und Aufgabe der Erziehung. Zeiten, die von der Vernünftigkeit oder vom Wahren, Guten und Schönen oder von der Sittlichkeit gern reden, gründen die Erziehungsgedanken auf diese luftigen Gespinste. Wenn die Menschen mehr an ihre Lebenserhaltung denken, an die Praxis des Daseins, dann fordern sie die Erziehung brauchbarer, tüchtiger, praktischer Menschen. Und wenn die Ideale Glückseligkeit oder Humanität heißen, so werden diese Träume auch Ideale der Erziehung. (S. 13 f.) 40 ZWISCHENWELT Erziehen heißt herausziehen, heran- oder emporziehen. Bilden heißt formen, gestalten. Da Erziehung oder Bildung nicht nur Ideologie ist, ja dies nicht einmal in erster Linie, sondern eine Praxis, die so alt wie die Menschheit selbst ist und in alle Menschenzukunft bestehen wird, so kann uns nur die Erziehungspraxis die Antwort geben, wobei es zunächst ganz gleichgültig ist, in welchen Formen sich die Menschen dieser ihrer Praxis bewußt werden. Was bedeuten die Worte sprachlich? Erziehen heißt herausziehen, heran- oder emporzichen. Bilden heißt formen, gestalten. Auf den Menschen angewendet bedeutet beides, wenn auch in verschiedenen Bildern ausgedrückt, im Wesen das gleiche, wobei das Bild „erziehen“ — vergleiche „Bäume ziehen“! - die vorhandenen, gegebenen Keime mehr hervorhebt, während „bilden“ einen Plan gegenüber einem ungeformten Material andeutet (vgl. das Wort: Bildhauer!). Beide Worte aber besagen, daß eine Führung, Anleitung, Beeinflussung von Massen stattfindet, ohne zunächst Kinder, Jugendlicher oder Erwachsenen zu bezeichnen. Die Erziehungspraxis, der diese Bilder entstammen, hat in Wirklichkeit auch nur dieses getan: Sie hat die Menschen, alle lebenden Menschen, mit ihren Kräfteanlagen nach bestimmten Richtungen „gezogen“, sie nach bestimmten Plänen geformt. Die erste wichtigste Fragestellung, ehe wir nach der Art der Richtungen und Pläne fragen, ist, daß es sich bei jeder Erziehung oder Bildung um ein gesellschaftliches Verhältnis von mindestens zwei Menschen handelt, um das Verhältnis von Erzieher und Zögling. Auch die Selbsterziehung ist, wie hier gleich bemerkt sein soll, nicht Erziehung eines einzelnen außerhalb aller menschlichen Zusammenhänge durch sich selbst, auch sie setzt die Erziehungsmittel und Möglichkeiten voraus, die von anderen Menschen stammen. (S. 17 £.) Daß der Erzieher, ob er sich offen so nennt oder, wie wir noch sehen werden, sich häufig hinter Verhüllungen versteckt, das Übergewicht in dem Gesellschaftsverhältnis hat, ist aus dem Wort schon verständlich, das ihn den Aktiven, den Tätigen gegenüber dem passiven Zögling bezeichnet. Daß es sich also um ein Machtverhältnis oder wenigstens um die Möglichkeit eines Machtverhältnisses handelt, ist klar. Und daß der Erzieher nicht ein von der Gesellschaft losgelöstes, über allem Gesellschaftsgeschehen frei schwebendes Individuum ist, daß die Mütter und Väter ihr Vorgehen bei der Erziehung von anderen Müttern und Vätern oder sonstigen Menschen bestimmen lassen, daß ferner die öffentlich beamteten Erzieher nicht einmal die Scheinunabhängigkeit der Richter besitzen, sondern aus uniformen Lehrerbildungsanstalten hervorgehen, in völliger Abhängigkeit geleitet werden und daher unter gleichen Verhältnissen im wesentlichen gleich erziehen und über ihre Erziehung gleich denken, daß schließlich alle anderen Zufallsbildner ihre Zöglinge für bestimmte gesellschaftliche Zwecke beeinflussen, — das alles bedarf keiner Beweise. (S. 18 f.)