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in Siegen, in Niederlagen, in Kerkern, in Auferstehungen. Es gab immer wieder neue Wege in Josef Scheus Komposition. Er begann viel — und mit Recht unter den Sternen Silchers. Die Lyrik seines Bruders war voll Pathos. Aber dann der Weg zu Heine. Die Vertonung der „Wanderraten“. Und: „Den Himmel überlassen wir den Engeln und den Spatzen.“ Als Walzer. Aber was für einer! Oft wurde der Text verboten. Dann sangen, dann summten die Chöre diesen Revolutionswalzer. Unvergeßlich. Später das Sonntagslied nach Karl Renners merkwürdig edlen Strophen. Das Lied in der Großstadt, das Lied an den Sonntag war geformt. War es um 1902, daß Richard Dehmel nach Wien kam, von uns Sechzehnjährigen gerufen, von Wiens Arbeitern gefeiert? Und Josef Scheu komponierte den „Arbeitsmann“ — nur Zeit! — und komponierte „Vergißmeinnicht in einer Waffenschmiede“. Ich war zugegen, ein Gymnasiast, als diese Chöre zum ersten Mal, vielleicht gar bis heute zum einzigen Mal aufklangen. Es gibt einen unbekannten JosefScheu: den suchenden Künstler. Die Geburt jenes Liedes der Arbeit! ‚Stimmt an das Lied der hohen Braut‘: der erste Sammelplatz lernender Wiener Arbeiter war der Gumpendorfer Bildungsverein, 1862 gegründet. Im Hofe des Vereins stand bis 1934 eine alte Büste Lassalles. In Josef Scheu lebte viel von Lassalleanischer Glut. Hier gab es nun einmal einen Kurs über die Geschichte der menschlichen Arbeit. War der Kurslehrer Andreas Scheu? In einer der letzten Stunden bat er die Schüler, den Inhalt der Kursstunden kurz schriftlich niederzulegen. Der achtzehnjährige Lithograph J. J. Zapf goß jede der Stunden säuberlich in eine Strophe um. So kam ein Gedicht mit dreizehn Strophen zustande. Wie es nun fertig war, fand schon Genosse Zapf, daß dreizehn Strophen für ein Gedicht ein bisschen viel sind. Aber dem Lithographen gefiel sonst seine Aufgabe. Er warf den langen Bogen — ohne seinen Namen - in den Briefkasten des Bildungsvereines. Gleich hob der immer neugierige Andreas Scheu das Manuskript heraus. Gleich ging er damit zu Josef Scheu. Und gleich komponierte Josef Scheu die dreizehn Strophen; sie werden durch die Jahrhunderte wandern. Es waren zu viele Strophen. Die Wiener Arbeiter sangen später nur drei Strophen. Elflange Jahre durfte keine Strophe gesungen werden. Später, später singt man vielleicht wieder alle dreizehn Strophen. Wenn die Kurse wieder beginnen. Wenn die Büsten Lassalles steigen. Vielleicht waren es gar nicht zu viele Strophen. Josef Scheu hatte zwei Töchter. Sie sangen schön und oft. Etwa Duette von Mendelssohn und Schumann. Sie waren sehr häßlich. Sie waren aber Helferinnen in den Volkshochschulen. Einer der Söhne, Robert Scheu, war Schriftsteller, Dramatiker. In der Familie gab es immer wieder künstlerische Naturen. Josef Scheus Hand führte nicht nur den Taktstock. Sie schrieb nicht nur die Notenköpfe seiner Vertonungen. Sie diente auch Josef Scheu, dem Musikschriftsteller. Er leitete, er schrieb die ersten Jahrgänge der österreichischen Arbeitersängerzeitung. Er wurde der erste Musikkritiker der Wiener Arbeiterzeitung. Vielleicht war er der Erschaffer der sozialistischen Musikkritik auf Erden. Maßvoll, kenntnisreich, rechtschaffen, volkstümlich lenkte er Wiens Arbeiterschaft zum Verständnis der europäischen Musik. So sangen dann Buchdrucker und Metallarbeiter Mendelsohns „Lied an die Künstler“, die Walpurgisnacht, die Neunte Symphonie und später Hyperions Schicksalslied. Große Abende großer Jahrzehnte. Josef Scheu war der erste österreichische Arbeiterkomponist. Sein war Erkenntnis und Schöpfung der Beziehungen zwischen Musik und Politik, zwischen Kunst und sozialer Frage. Er war eine Variation. Wie seine Brüder. Sie hatten ein Thema: die 44 ZWISCHENWELT Komposition der Zukunft. Aus: Josef Luitpold: An die Musik. Essays Von Beethoven zu Brahms. New York: Eigenverlag-Druck E. Willard 1947. (Die hundert Hefie. 85). S. 24-27. Josef Luitpold Stern studierte Rechtwissenschaften in Wien und Heidelberg. Bereits als Student hält er Vorträge im „Ottakringer Volksheim“ und schloß sich der „Freien Vereinigung sozialdemokratischer Studenten“ und dem „Sozialwissenschaftlichen Bildungsverein“ an. Er beteiligte sich an der „Volksbühnebewegung“ und war Mitarbeiter der Zeitschrift „Strom“. 1909 Aufenthalt in Dresden und Mitarbeiter der Zeitschrift „Der Kunstwart“. Ab 1911 Mitarbeiter im Kulturteil der AZ, ein Jahr darauf Leiter der Arbeiter-Bildungs-Zentrale, 1914 Leiter der „Volksbühne“. Nach 1918 wurde er wieder Leiter der sozialdemokratischen Bildungszentrale. Mitbegründer der Büchergilde Gutenberg. 1922 übernahm Stern die Leitung der Zentralstelle für Bildungsarbeit der sudetendeutschen Arbeiterpartei in Aussig (Tschechoslowakei). Nach seiner Rückkehr 1926 Rektor der Wiener „Arbeiter-Hochschule“. Er gehörte zu den Gründern der „Vereinigung sozialistischer Schriftsteller“. Nach dem Februar 1934 flüchtete Stern zunächst nach Brünn, 1938 gelangte er nach Frankreich, wo er in verschiedenen Internierungslagern interniert wurde. 1940 Flucht über die Pyrenäen nach Spanien und weiter nach Lissabon, von wo er per Schiff in die USA reiste. In New York schlug er sich mit Hilfsarbeiten durch, bis er 1941 in Philadelphia durch eine Quäkerorganisation eine Anstellung als Lehrer und Fürsorger fand. Ende April 1948 kehrte Stern nach Österreich zurück und wurde Rektor des Bildungsheimes Schloss Weinberg in Kefernmarkt/OO (bis 1953). Danach war er im ÖGB-Bildungsreferat tätig. Er erhielt eine Reihe von Ehrungen, u.a. 1948 den Preis der Stadt Wien für Volksbildung. 1958 wurde ihm der Professorentitel verliehen. Josef Luitpold Stern starb am 13.9.1966 in Wien. Verstreutes Unerträglich. — Stoße in einem Brief aus dem späten 19. Jahrhundert auf eine Stelle, an der von unbegreiflichen Verhältnissen die Rede ist. Was immer damit gemeint ist, Mist, der auf den Straßen liegt, Kinder in Lumpen oder Unterschleifin den Ämtern - wir würden heute eher von unerträglichen Zuständen sprechen. Doch das Unerträgliche hat eine für mich unerträgliche Vorgeschichte. In Meldungen von Blockwarten, in Briefen von Kreisleitern ist immer wieder von Unerträglichem die Rede, sehr oft davon, daß der Jude Sowieso noch immer am Ort ansässig sei, oder davon, daß sich in einem Park noch immer „Juden“ träfen und es wie auf einem ,,Basar“ zugehe. „Unerträglich“ appelliert an subjektives Empfinden, ob es nun das gesunde des Volksgenossen oder das sensible des Zeitgenossen war oder ist. Im „Unbegreiflichen“ hingegen wurde an die Vernunft appelliert - sie und nicht das unbegreiflicherweise gestörte Wohlgefühl irgendwelcher Personen ist die Instanz, an die man sich wendet. Versuche ich also in Zukunft, das Wörtchen unerträglich durch unbegreiflich zu ersetzen, wo immer es möglich ist, und zu streichen, wo es bloß Entrüstung bekundet.