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Jura Soyfer Ob es viele Hakenkreuzler in Halle gibt? Nun, es sind ihrer immerhin 58.000. Aber sie rekrutieren sich hauptsächlich aus den Gewerbetreibenden und aus den Studenten der Hallenser Universität. Darum konnten sie aus ihrer 58.000köpfigen Masse nur etwa vierhundert SA.-Leute aufstellen. Diese vierhundert, das sind die wenigen Proleten der „Arbeiterpartei“. Sie sind es, die für Hitler prügeln und schießen, die sich für ihn schlagen und erstechen lassen, während die andern im Hintergrund bleiben. Sogar im Wahl- und Straßenkampf Hitlers und Prinz August Wilhelms gibt es also Frontschweine und Etappenhelden. Und weil die Nazis bei der letzten Löbe-Versammlung, die sie sprengen wollten, so mächtige „Senge“ gekriegt haben und weil es für sie nicht ratsam ist, mit Abzeichen durch die Arbeiterviertel zu gehen, weil bei Eiserner Front und „Kommune“ nicht krampfhafter Führerglaube, sondern Klassenbewußtsein und starker Wille zur Einheit herrscht, spielen die Hallenser Nazi eine recht klägliche Rolle, obwohl sie zahlreicher sind, als die Roten zusammengenommen. Das ist eine ermutigende Lehre. KOK Der Fiedler hatte einen höchst rührseligen Schmachtfetzen zum besten gegeben und einer, der die Gitarre eine halbe Stunde lang mit überflüssiger Sorgfalt gestimmt hatte — er hatte ja bis zum Morgen Zeit-, legte mit der Arbeitermarseillaise los. Freitagnacht wurde das Hallenser Gewerkschaftshaus mit Musikbegleitung bewacht, weil der Spielmannszug des Reichsbanners Bereitschaft hatte. Ungefähr zwanzig Mann saßen im Wachzimmer, rauchten, spielten Karten, musizierten — Singen ist bei der Wache verboten. Zum Ausschlafen hatten die Reichsbannerleute am nächsten Tag Zeit, denn sie sind alle zwanzig arbeitslos. Draußen hing über Halle der Nachthimmel dunkelgrau. Drüben im Leunawerk rauchen zwar nur noch die Hälfte der Schlote, aber das genügt, um einen richtigen trostlosen Fabrikhimmel zu schaffen. In den das Gewerkschaftshaus umliegenden Straßen streiften verstärkte Patrouillen herum. Tagsüber hatte es nämlich Stänkereien zwischen Nazi und Arbeiterturnern, die zu einem Sportfest gekommen waren, gegeben. Auch die fünfzehn Jungbannermänner, die bei Anbruch der Dämmerung von einer Landpropagandatour auf Fahrrädern zurückgekommen waren, hatten, heiser und schweißgebadet — sie hatten zwölf Stunden lang geradelt und Sprechchöre gebrüllt —, zu berichten gewußt, sie seien in der Stadt von Hakenkreuzlern angestänkert worden. Und so saß in Erwartung kommender Ereignisse der Spielmannszug des Reichsbanners Halle im Gewerkschaftshaus, drosch Skat, soff elenden Zichorienkaffee. Der Gitarrespieler aber summte, obwohl es verboten war: „Wohlan, wer Recht und Freiheit achtet, zu unserer Fahne ström’ zuhauf!“ Schlag neun wurden von draußen plötzlich Laufschritte hörbar. Eine Patrouille stürmte von der Straße in den Hof. Und gleich hinterher eine andre. Ein Mann blutete am Kopf. „Alles heraus“, brüllten die Patrouillen, „die Nazis kommen!“ 50 ZWISCHENWELT Die zwanzig im Wachlokal hatten gerade noch Zeit, ihre Lichtknüppel - schwere, stabförmige Lampen, die gut leuchten und auch andre Dienste tun - zu packen, für alle Fälle ein paar Stühle mitzunehmen und auf die Straße zu laufen. Draußen kam schon ein Lastwagen herangesaust: das Rollkommando der braunen Mordpest. In halber Fahrt sprangen fünfzig SA.-Leute heraus und stürmten mit Totschlägern und Ochsenziemern auf das Haus zu. Die Schlacht von Austerlitz läßt sich beschreiben, da damals zumindest Napoleon angeblich wußte, was los war. Was aber Freitag den 16.d. um 21 Uhr in der spärlich beleuchteten Straße vor dem Hallenser Gewerkschaftshaus zu sehen war, war ein auf und ab wogender Haufe von Grün- und Braunhemden. Was zu hören war, war das Krachen von Schlägen, das Krachen von Blumentöpfen und Geschirrstücken, die aus den Fenstern der Häuser auf die Köpfe der Nazi flogen, war unbeschreibliches Gejohle. Aber als das Überfallkommando der Polizei nach zehn Minuten erschien, blieb ihm nichts mehr zu tun übrig, als zwei schwerverletzte Hakenkreuzler wegzuführen. Die übrigen waren mit Vollgas ausgerissen. Nach weiteren zehn Minuten war die „Kommune“ (die Kommunisten) in einer Stärke von hundert Mann da, um das Gewerkschaftshaus schützen zu helfen. Sie besetzten das Nebenhaus und ein Einkreisungsplan wurde mit ihnen vereinbart, für den Fall, daß die Hakenkreuzler wiederkommen sollten. Doch zur allgemeinen Verwunderung holten die Nazi nicht ihre Reserven aus den umliegenden Dörfern. Sie mobilisierten nicht einmal die SA. der Stadt. Sie hatten den Bereitschaftsdienst der Kommunisten wohl ausspioniert; sie gingen schlafen. Auch hier haben sie wieder einmal einen Vorgeschmack der proletarischen Einheitsfront zu spüren bekommen, der Einheitsfront, die sich, trotz allen Schwierigkeiten, vom Willen der Masse getragen, in Deutschland zu bilden beginnt. Um 10 Uhr saßen die Spielleute des Reichsbanners wieder im Wachlokal. Der Gitarrespieler hatte eine blutige Bandage um den Kopf. Er fing die Arbeitermarseillaise von vorn an. Und obwohl es verboten ist, sangen alle mit, als die Stelle kam: „stehet fest, stehet fest und wanket nicht ...“ Aus: Arbeiter-Zeitung, 24.7.1932, 3 Jura Soyfer (1912 — 1939) war Dichter, Autor der Kleinkunstbühne und Reporter. Seine erste Reportage in der Arbeiter-Zeitung erschien 1930, es sollten acht weitere, zwischen Sommer und Herbst 1932 in und tiber Deutschland geschrieben, folgen. Horst Jarka bemerkte dazu: „Die Tippeltour durch Deutschland im letzten Sommer vor Hitler war die Lehrzeit des politischen Journalisten Soyfer. Die Reportagen sind sein Gesellenstück.“ (Horst Jarka: Jura Soyfer. Leben, Werk, Zeit. Wien 1987, 5.94). In der Arbeiter-Zeitung erschienen von 1932 bis 1934 ebenfalls über 80 Gedichte des 20-jährigen Autors.