OCR
Jura Soyfer Brief an Marika Szecsi [Berlin,] 24. Juli [1932] Mein Liebling! Diesen Brief schreibe ich Dir auf der Maschine des Sigi, einen Tag, nachdem ich in Berlin angekommen bin. Ich hatte ursprünglich die Absicht, von Braunschweig ins Rheinland zu fahren, weil dort immer was los ist, aber ich hielt es einfach nicht länger ohne A.Z. und Nachrichten von Ludwig aus, da ich niemals sicher war, einen Bericht zu schreiben, den Ludwig noch nicht geschrieben hatte. Die Artikel Ludwigs habe ich inzwischen gelesen und habe festgestellt, daß es Artikel sind, wie sie typisch nur er als entsandter Sonderkorrespondent schreiben konnte, während ich als gelegentlicher Berichterstatter unmöglich so allgemeine Sachen schicken kann. Die Frage, auf die ich besonders neugierig war, nämlich, wie er seine politische Kritik der jetzigen Ereignisse bei der A.Z., die doch unmöglich ihre deutsche Bruderpartei beflegeln kann, anbringen wird, hat sich meiner Erwartung gemäß gelöst: Er schreibt nämlich überhaupt keine politische Kritik. Die kritischen Glossen eines vernünftigen Menschen zur Taktik der S.P.D. können heute bloß in einer Reihe von wilden, nicht salonfähigen Flüchen bestehen, die in keiner Tageszeitung ihren Platz finden könnten, was ja auch das heutige Verbot der Roten Fahne bewiesen hat. Ludwig selbst habe ich noch nicht sprechen können, da er den Kanitz, der hier in S.A.J.-Versammlungen spricht, nach Chemnitz begleitet hat. Deine Gefühle bezüglich der bisherigen praktischen Erfolge meiner Reise teile ich einigermaßen. Nur darfst Du nicht vergessen, daß ich bis jetzt erstens nie wußte, was ich eigentlich zu schreiben hätte (Ludwig), und zweitens durch das prachtvoll vonstatten gehende, aber Tage in Anspruch nehmende Tippeln samt unbequemen Übernachtungen wenig zum Schreiben kam. Ich habe bis jetzt nur einen Artikel an die A.Z. über den Naziüberfall auf das Gewerkschaftshaus in Halle geschickt. Hoffentlich bringen sie ihn. Heute und morgen will ich, da es reichlich spät ist, mich wild in die Arbeit für Kleines Blatt, A.Z. und wenn möglich Kuckuck stürzen, um nach Möglichkeit vor dem 31. noch viel anbringen zu können. Ich lebe hier bei Sigi, der wirklich sehr nett ist. Gestern habe ich den Abend mit seinem Kreis, oder besser gesagt einem Teil desselben (denn sein Kreis besteht aus 20 Mann, die Freien Soz. Schüler Berlins, ist schr lebendig und hat dreimal sympathischere erotische Formen als der unsere) verbracht. Berlin ist eine derart entmutigend große Stadt, daß die drei Gänge, die ich gestern tagsüber zu erledigen hatte, mir den ganzen Tag verschlangen. Die Stimmung hier ist mies und interessant. Die S.P hat, Deinem frommen Wunsch nicht folgend, schmählich kapituliert und eine große Gelegenheit versäumt, da der Staatsapparat und die Ideologie der Arbeiter relativ günstig für ein Losschlagen waren. Die Arbeiterschaft Deutschlands ist durch und durch revolutioniert, und es kommen einem Tränen in die Augen, wenn man sieht, wie diese prachtvollen Proleten mit ihrer ganzen Kampfenergie an den Stempelstellen verrecken müssen, weil Wels Wels und Thalmann Thalmann ist. In Braunschweig habe ich Hitler gehört (die Unkenrufe Sigis bezüglich Gefährdung meiner Person als Jude haben sich endgültig als Bluff'erwiesen) und war über die Geistlosigkeit und Brutalität dieses Massenbezauberers baff. Warum meine Mama entsetzt war, ist mir ein Rätsel. Ich habe ihr ziemlich regelmäßig geschrieben. Um auf das Ihema „schreiben“ noch mal zurückzukommen: Mehr als drei oder vier Artikel per Zeitung hätte ich ohnehin nicht gebracht, und dazu habe ich jetzt noch, wenn auch knapp, Zeit. Das nebenbei. An eine Tippelei mit Mitza denke ich nicht. Das Tippeln als solches macht mir trotz meiner hiesigen Tagesleistungen von 350 km keinen großen Spaß, und meine Sehnsucht nach Dir nimmt störende Dimensionen an, Liebling. Ich bleibe zwar vielleicht ein wenig länger in Berlin, komme aber dann nach Wien. Ich hoffe, daß die Briefzensur des militärischen Befehlshabers Berlins keinen Anstand an der Versicherung nehmen wird, daß ich Dich sehr liebhabe und mich furchtbar auf Dich freue, Liebling. So sicher wie ich weiß, daß der A.D.G.B. keinen Streik proklamieren wird, so sicher weiß ich, daß ich Dich gern habe, und das will etwas heißen. Ich hoffe, daß Du mich auch noch magst, obwohl ich nicht einen Leitartikel in der A.Z. hatte, übersende Dir hiemit einen größeren Posten von langen Küssen und warte auf Deine Antwort, mein goldener Liebling. Jura. Meine Adresse: Berlin-Halensee, Johann-Georg-Straße 11, bei Eisenberg. Aus: Jura Soyfer. Sturmzeiten. Briefe. Hg. Von Horst Jarka. Wien: Verlag für Gesellschaftskritik 1991, 40f Marika Szecsi (1914 — 1984), Freundin von Jura Soyfer. Im Widerstand tätig. Nach der Rückkehr aus dem Exil wurde sie nicht nur Mitarbeiterin der AK, sondern auch eine der wichtigen Ökonominnen Österreichs. Mit Ludwig ist Ludwig Wagner (1900-1963) gemeint, Pädagoge, Autor. Ab 1934 im Widerstand, flüchtete schließlich nach Schweden und in die USA. Sigi/Sigismund Eisenberg, Berliner sozialdemokratischer Jugendführer. Rote Fahne war das Zentralorgan der KPD. Mit Kanitz ist Otto Felix Kanitz (1894 — 1940) gemeint. Joseph Simon schrieb zum 1940 in Buchenwald ermordeten Kanitz, dass dieser „vermutlich die größte Begabung [war], die die sozialistische Bewegung Österreichs hervorgebracht hat“ (Joseph T. Simon: Augenzeuge. Wien 1979. S. 67). Otto Wels (1873-1939) seit 1919 einer der Vorsitzenden der SPD, starb im Pariser Exil. Ernst Thälmann (1886-1944), ab 1925 Vorsitzender der KPD, 1944 in Buchenwald ermordet. Mitza ist Jura Soyfers alter Freund Mitja Rapoport (1912 — 2004). Er heiratete in den USA 1937 Marika Szecsi. A.D.G.B. (1919 - 1933). Der Allgemeine Deutsche Gewerkschafisbund ist ein Zusammenschluss von 52 deutschen Gewerkschaften und mehreren Millionen ArbeiterInnen gewesen. November 2014 51