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Julius Stieber Als Fritz Brügel, Schriftsteller und Funktionär der Wiener Arbeiterbewegung, zu Beginn des Jahres 1935 ausgebürgert wurde, hatte er sich bereits mit in der sozialdemokratischen Monatsschrift „Der Kampf“ publizierten Artikeln sowie mit politischer Lyrik als kompromißloser Gegner des Austrofaschismus einen Namen gemacht. Unmittelbarer Anlaß für seine Ausbürgerung war sein Briefan den Edinburgher PEN-Kongreß, der die österreichische Regierung vor erhebliche Imageprobleme stellte. Zu diesem Vorfall legte das Bundeskanzleramt einen Aktan, der eine Abschrift von Brügels Brief an den PEN und die Anmerkung, daß die Staatspolizei „wegen einer allfälligen Ausbürgerung Fritz Briigel’s [...] verständigt“! worden sei, enthält. Brügel scheint dann auch tatsächlich in einem von der Polizeidirektion erstellten Verzeichnis ausgebürgerter Personen (unter der Nummer 59) auf.” In der „Arbeiter-Zeitung“ wurde diese Maßnahme empört zur Kenntnis genommen: „Brügel ist der Dichter des heimattreuesten unter allen Liedern der Wiener Arbeiterschaft, des Liedes ‚Wir sind die Arbeiter von Wien‘. Brügel ist der Schöpfer des geistig wertvollsten von allem, was die Austrofaschisten gestohlen haben: der Sozialwissenschaftlichen Studienbibliothek der Wiener Arbeiterkammer. Sie haben sein Werk gestohlen und sich angeeignet: ihn, den Sänger des hohen Liedes von den Wiener Arbeitern, bürgern sie aus!“? Adressat dieser Worte war zweifellos die Wiener Arbeiterschaft. Anhand Brügels Schicksal wird ihr vorgeführt, wie das Regime mit einem der Ihren verfährt und wie rücksichtslos dabei auch mit den kulturellen Leistungen der Arbeiterbewegung verfahren wird. Brügel wird dabei mit Zuhilfenahme religiöser Attribute („Sänger des hohen Liedes“), die in der Frühzeit der Arbeiterbewegung häufig angestrengt wurden, zum Märtyrer der Wiener Arbeiterschaft stilisiert. Der Begriff der Heimattreue wird in einer geschickten Umkehrung der ständestaatlich-reaktionären Begriffsdeutung, wie sie sich zum Beispiel in der katholisch-vaterländischen Literatur niederschlug,‘ für die eigene Bewegung in Anspruch genommen und besetzt. „Die Arbeiter von Wien“ (1926) Abgesehen von Brügels allererster Veröffentlichung von 1923, dem Antikriegsgedicht „Der Zug der Toten“, publizierte Fritz Brügel vor den Ereignissen rund um den Justizpalastbrand des Jahres 1927 kaum politische Gedichte. Zwei Ausnahmen davon sind das bekannte Lied „Die Arbeiter von Wien“ sowie die Ode „Aufmarsch“. Beide Texte stehen in der Tradition des klassischen Arbeiterliedes des 19. Jahrhunderts, der Vormärzlyrik und frühen sozialistischen Lyrik. Insbesondere gilt dies für „Die Arbeiter von Wien“ (im Folgenden zitiert nach der Erstveröffentlichung 1926): Wir sind das Bauvolk der kommenden Welt, wir sind der Sämann, die Saat und das Feld, wir sind die Schnitter der kommenden Mahd, wir sind die Zukunft und wir sind die Tat. So flieg, du flammende, du rote Fahne voran dem Wege, den wir ziehn. 52 ZWISCHENWELT Wir sind der Zukunft getreue Kämpfer, wir sind die Arbeiter von Wien! Herrn der Fabriken, ihr Herren der Welt, endlich wird eure Herrschaft gefallt, wir, die Armee, die die Zukunft erschaffi, sprengen der Fesseln engende Haft. So flieg, du flammende, du rote Fahne voran dem Wege, den wir ziehn. Wir sind der Zukunft getreue Kämpfer, wir sind die Arbeiter von Wien? Eine genaue Datierung dieses Liedes ist nicht méglich. Fest steht, daß es in österreichischen Blättern erstmals 1926 anonym im Frauenmagazin der SDAP „Die Unzufriedene“ publiziert wurde. Die anonyme Veröffentlichung und unsichere Datierung haben allerdings ursächlich mit dem Genre des sozialistischen Arbeiterliedes und seiner Funktion zu tun: Als Lied wurde es vor allem gesungen vermittelt, der Text selbst ist hingegen Ausdruck eines kollektiven Bewußtseins.° Diese Haltung nimmt Fritz Brügel eben auch in seinem Arbeiterlied ein: Jede Spur individuellen Sprechens ist getilgt, eine kollektive, klassenbewußte Sprache bestimmt den Text. Es verwundert daher nicht, wenn Brügels „lokalpatriotisches“ Lied innerhalb der Wiener Arbeiterschaft nach wie vor bekannt ist, sein Autor aber nahezu unbekannt blieb und meist kaum in Verbindung mit diesem Lied gebracht wurde. So auch 2010 im Rahmen der Großausstellung „Kampf um die Stadt. Politik, Kunst und Alltag um 1930“ im Wien Museum, wo zwar „Die Arbeiter von Wien“ über eine Audiostation hörbar waren, jeder Hinweis auf die Autorschaft Fritz Brügels jedoch fehlte. Brügels kämpferisches Arbeiterlied ist, das sei der historischen Vollständigkeit halber erwähnt, nur eines von zahlreichen sozialistischen Liedern, die unmittelbar nach dem Krieg und im Laufe der 1920er Jahre entstanden sind. Gerade die „Gesangskultur“ des Krieges, aber vor allem natürlich die russische Revolution waren Stimulatoren für die sozialistische Liedgutproduktion dieser Zeit.’ Der Einfluß der russischen Revolution ist auch bei Brügels Arbeiterlied nachweisbar: Die Melodie wurde vom sowjetischen Militärmarsch „Weiße Armee, schwarzer Baron“ (1920) des russischen Komponisten Samuel Pokrass (1897-1939) übernommen. Insgesamt ist das Lied „Die Arbeiter von Wien“ ganz im Sinne der sozialistischen Tradition durch einen stark appellativen Charakter geprägt, der sich vor allem an zwei Momenten manifestiert: erstens durch die Wiederholung bestimmter Wörter bzw. Wortfelder, insbesondere durch die insgesamt 12-mal verwendete Wir-Form. Sie bildet nach Gerald Stieg und Bernd Witte das Unterscheidungsmerkmal zwischen klassischer Arbeiterdichtung und bürgerlicher Dichtung, in der das lyrische Ich die zentrale Rolle spielt. Die Wir-Form dient in erster Linie dem Einschwören auf die Gemeinschaft der Arbeiterbewegung, auf deren klassenkämpferische Gesinnung und sozialistische Identität. Dieses Wir stärkt aber auch das eigene Selbstbewußtsein, indem es sich als universal und geschichtsmächtig definiert. Zweitens wird der appellative Charakter der „Arbeiter von Wien“ zusätzlich durch