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Man sieht uns nicht, man kennt uns nicht, wir tragen keine Zeichen. Der Haß des Feinds verbrennt uns nicht, er kann uns nicht erreichen. Man fängt uns nicht, man hört uns nicht, wir leben nicht im Hellen, der Hafß des Feinds zerstört uns nicht das Netz der stummen Zellen. Wir spinnen unsre Fäden fort, das Netz wird immer dichter, von Stadt zu Stadt, von Ort zu Ort, trotz Henker, Kerker, Richter. Wir sind wie Atem, Luft und Wind, der Feind kann uns nicht greifen. Er starrt sich seine Augen blind und spürt nur, daß wir reifen. Die heut im Grau des Dämmerlichts die schmalen Wege graben: sie hatten nichts, sie haben nichts, sie werden alles haben.” Oskar Maria Grafbezeichnete dieses Gedicht als „eines der schönsten revolutionären Lieder der Jetztzeit“ und attestiert Brügel einen ungewohnt sorgfältigen Umgang mit der Sprache: „Ich habe unter den modernen Lyrikern, die etwas gelten, keinen gefunden, der in seinen Versen eine derartig erstaunliche Vereinigung von höchster Sprachkunst, zuchtvollster Form und echter Volksliedhaftigkeit aufweisen kann.“” Wie bekannt Brügels „Flüsterlied“ in Emigrantenkreisen war, davon zeugt auch die kritische Auseinandersetzung Bert Brechts, der dieses Gedicht, wie er anmerkt, erstmals in der Zeitschrift „Das Wort“ zu Gesicht bekam. Brechts akribische Analyse des „Flüsterliedes“ stellt — im Gegensatz zu Graf - eine radikale Sprachkritik dar. Brechts Hauptvorwurfan Brügel richtet sich gegen das unkontrollierte Verwenden von Bildern, die nach Brecht assoziative Ketten ohne innere Logik bilden.” Nicht alle haben es so wie Brecht geschen, wie die erwähnten HermannNeisse und Graf zeigen. Brügel jedenfalls hat nachweislich auf Brechts Kritik reagiert und in der „Flüsterlied“-Version im Band „Gedichte aus Europa“ insbesondere das von Brecht kritisierte Wort „List“ (1. Strophe, 3. Zeile) durch „Haß“ ersetzt. Auch wenn Brügel teilweise die Kritik Brechts nachvollziehen konnte, so muß doch festgehalten werden, daß seine Dichtung einer eigenen Logik unterliegt, der Brecht seinerseits offensichtlich nicht zu folgen bereit war. So verweisen die assoziativen Bildketten, die von Brecht als „alleroberflächlichster Natur“?? bezeichnet werden, in ihrer systematischen Anwendung in Brügels Exillyrik letztlich auf die existentielle Problematik der Daseinsform Exil, die eine Verarbeitung der Welt nach streng logischen Kriterien eben nicht zuläßt. Das Leiden im Exil manifestiert sich bei Brügel in neuen Sprachbildern und Bildketten, wobei stereotype Wiederholungen —so wie in der klassischen Arbeiterlyrik- als Ausdrucksmittel des Widerstands und des Aufschreis legitimiert scheinen. Diese neuen Sprachbilder knüpfen also durchaus an die formelhafte Sprache in „Die Arbeiter von Wien“ an, gehen aber zugleich inhaltlich darüber hinaus und verweisen somit auf die Entwicklung des Arbeiterliedes unter den Bedingungen des Exils. Julius Stieber, geb. 1966 in Linz, studierte Germanistik und Geschichte an der Universität Wien. 1998 schloss er sein Doktoratsstudium mit der Dissertation „Fritz Brügel im Exil 1934-1955. Studien zu Leben und Werk eines sozialdemokratischen Schrifistellers“ ab. Von 1996-2010 war er in der Direktion Kultur des Landes Oberösterreich tätig, seit 2010 ist er Kulturdirektor der Stadt Linz. Anmerkungen 1 Akt der Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit im Bundeskanzleramt, 224.862/G.D. 34. Gegenstand: Brügel Fritz, Brief an den Pen-ClubKongreß (ÖStA/Archiv der Republik) 2 Verzeichnis der Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit im Bundeskanzleramt über ausgebürgerte Personen, GD 313.248=St.B. (Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, Bibliothek 22696) 3 An der Kulturfront. Ausbürgerung eines Schriftstellers. In: Arbeiter-Zeitung, 20.1.1935, S.7 4 Vgl. Horst Jarka, Zur Literatur- und Theaterpolitik im „Ständestaat“. In: Franz Kadrnoska (Hrsg.), Aufbruch und Untergang. Österreichische Kultur zwischen 1918 und 1938. Wien/Miinchen/Ziirich 1981, S. 499-538, sowie Friedbert Aspetsberger, Literarisches Leben im Austrofaschismus. Der Staatspreis. Königstein/Ts. 1980, S. 64 ff. 5 Die Arbeiter von Wien. In: Die Unzufriedene, 18.9.1926, S. 5 6 Vgl. Gerald Stieg/Bernd Witte, Abriß einer Geschichte der deutschen Arbeiterliteratur. Stuttgart 1973, S. 12, sowie Fritz J. Raddatz, Lied und Gedicht der proletarisch-revolutionären Literatur. In: Die deutsche Literatur in der Weimarer Republik, hrsg. v. Wolfgang Rothe. Stuttgart 1974, S. 405 7 Frank Trommler, Sozialistische Literatur in Deutschland. Ein historischer Überblick. Stuttgart 1976, S. 460 f. 8 Gerald Stieg/Bernd Witte, a.a.O., S. 32 9 Frank Trommler, a.a.O., S. 462 10 Februar 1934. Schriftsteller erzählen, hrsg. v. Ulrich Weinzierl. Wien/ München 1986 (3. Aufl.), S. 137 11 Karl-Markus Gauß, Der Februar 1934 in der Literatur. Anmerkungen zur fehlenden und zur vorhandenen Literatur über den österreichischen Bürgerkrieg. In: Wiener Tagebuch, Nr. 2, Februar 1984, S. 26 12 Ulrich Weinzierl, Die Schriftsteller und der Februar 1934. In: Februar 1934. Schriftsteller erzählen, a.a.O., S. 141 13 Ernst Glaser, Der Februar 1934 in der Dichtung. Stationen des Weges zur „Kritischen Versöhnung“. In: Der 12. Februar 1934. Ursachen Fakten Folgen, hrsg. v. Erich Fröschl und Helga Zoitl. Wien 1984, S. 251 14 Bernhard Denscher, Fritz Brügel. Zu Unrecht vergessen. In: Wien aktuell magazin 1984, H. 2, S. XXV 15 Fritz Brügel, Die Febuarballade. Prag 1935 16 Friedrich Bruegel an Wanda Lanzer, London, 16.1.1952 (Wien Bibliothek, Tagblattarchiv). Zur Erläuterung: Masereel = Frans Masereel (1889-1972), belgischer Grafiker, Zeichner und Maler 17 Fritz Bruegel, Februarballade. In: Fritz Bruegel, Gedichte aus Europa. Zürich/New York 1945 (2. Aufl.), S. 76-90. Die „Februarballade“ wird im Folgenden nach der hier angeführten Ausgabe mit dem Kürzel G und Seitenanzahl zitiert. 18 Fritz Brügel, Februarballade. Wien 1946 (= Sozialistische Hefte 9) 19 Oskar Maria Graf, Fritz Brügels „Februar-Ballade“. In: Der Kampf 3 (1936), H. 2, S. 85 f. 20 Oskar Maria Graf, Ein großer revolutionärer Dichter unserer Zeit. In: Der Kampf 3 (1936), H. 12, S. 497 21 H. C., Dichtung der Einheitsfront. Fritz Brügel: Gedichte aus Europa. In: Weg und Ziel 1936, Nr. 4, S. 198 22 Max Hermann (Neisse), Glück durch Lyrik. In: Pariser Tageszeitung, Nr. 255, 21.2.1937, S. 4 23 Alfred Kantorowicz, Deutsches Tagebuch, Bd. 1. München 1959, S. 596 24 Fritz Brügel, Flüsterlied. In: Das Wort 1 (1936), H. 1, $. 43 25 Oskar Maria Graf, Ein großer revolutionärer Dichter, a.a.O., S. 496 26 Fritz Bruegel, Flüsterlied. In: Fritz Bruegel, Gedichte aus Europa, a.a.O., S. 40 27 Oskar Maria Graf, Ein großer revolutionärer Dichter, a.a.O., S. 496 28 Bertolt Brecht, Logik der Lyrik. In: Bertolt Brecht, Über Lyrik. Frankfurt/M. 1964 (= es 70), S. 22-24 29 Ebd., S. 24 November 2014 55