OCR
Anja Melzer „Erfasset, dass ihr Menschen seid!“ Lotte Pirkers Geschichtenkaleidoskop Ich sitze im Archiv und lese schreibmaschinenbetippte Zettel mit Bleistiftausbesserungen, blättere in bis auf die letzte Zeile vollgeschriebenen Notizheften, entziffere schnell hingekritzelte Einfälle auf Flugblättern. Es ist der Versuch, die Versatzstücke des Lebens und Schaffens einer Autorin zusammenzusetzen. Einer Frau, die dem kollektiven Gedächtnis abhanden gekommen ist, eine dieser vergessenen österreichischen Schriftstellerinnen, deren Werke nicht mehr verlegt werden und nur noch in Bibliotheken und gut sortierten Antiquariaten zu finden sind. Lotte Pirker: Sozialistin, Feministin, Pazifistin. Dichterin, Dramaturgin, Geschichtenerzählerin. Volksnah, zynisch, poetisch. Ein böhmisches Mädchen aus besserem Hause, das in der Wiener Arbeiterkultur heimisch wurde — und im Nationalsozialismus verstummte. Die Quellen meiner Arbeit sind wie ein Flickenteppich über Wien verstreut. Von ihrem Leben ist wenig überliefert. Die handfesten Details hat sie selbst und später auf wenigen Seiten ihr Sohn aufgeschrieben. Die Mehrzahl an einschlägigen bibliographischen Bänden über österreichische Literatinnen verschweigt gar Lotte Pirkers Existenz. Mühevoll müssen Zeitungsartikel recherchiert, Korrespondenzen und Kulturprogramme aus den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts durchgesehen werden. Bunt beklebte und beschriebene Tagebiicher, Alben und Florilegien, Sammelsurien eigener und fremder Gedichte, mit Fiktionen, Witzen, Postkarten und Fotografien fügen sich wie Puzzleteile zu einem Bild zusammen. Die am 11. August 1877 geborene Karoline „Lotte“ Schneider wächst in einem großbürgerlichen Umfeld auf, die Familie hat adlige Kontakte. Ihre Kindheit beschreibt Lotte als glücklich. Mit sechs Jahren zieht die Familie nach Karlsbad, wo der Vater Landesgerichtsrat wird — eine der Sprossen auf seiner juristischen Karriereleiter. Backfischschwarmereien fiir Leutnants oder andere militärische Dienstgrade, die durch Verkupplungsaktionen ihres Vaters sogar noch befeuert werden, bezeugen die familiäre Nähe zu den in Böhmen stationierten Truppen. Gemessen an damaligen Standards wird Lotte schr liberal erzogen. Ihre Erinnerungen in „Mein buntbewegtes Leben“, deren Manuskript aus den frühen fünfziger Jahren im Bezirksmuseum Wien-Hietzing lagert, lassen vermuten, dass die Fltern zwar nach außen hin den Anschein einer strengen Erziehung der Tochter wahren wollten, doch scheint es, als sei es ihnen in Wahrheit nicht allzu ernst mit den Konventionen gewesen. So kommt Lotte in den Genuss von Privilegien, die wohl den wenigsten Mädchen zugänglich waren. Sie lebt frei, reist in jungen Jahren aufeeigene Faust ins Ausland, raucht schon als Mädchen. Ihre Eltern achten zwar auf Privatunterricht, aber auch auf künstlerische Bildung und sportliche Betätigung. So bestreitet sie Tennisturniere und legt sogar die Schwimmmeisterprüfung ab — für eine Frau Ende des 19. Jahrhunderts mehr als untypisch. Bei Theateraufführungen sitzt sie in der ersten Reihe (was wohl einige Überredungskunst gekostet hatte) und besucht Literaturkurse. Sie schildert sich als selbstbewusstes und extrovertiertes Mädchen, deren Abenteuerlust und Wissbegierde sie oft genug zur Gruppenanführerin machten: „Tatsache ist, dass damals viele Menschen nach meiner Pfeife tanzten.“ 58 _ ZWISCHENWELT Lotte geht an die Münchener Akademie der Bildenden Künste, um Malerei zu studieren. Dort hat sie erste Kontakte mit der Frauenbewegung, lernt Rosa Luxemburg kennen. Wilde Atelierfeste werden gefeiert, Lotte hat sogar eine weibliche Verehrerin und gemeinsam demonstrieren die Frauen für das Recht, den Männern gleichgestellt in Lokalen rauchen zu dürfen. Nach zwei Jahren gibt sie die Malerei auf: „Ich konnte zu wenig, um es beruflich, zu viel, um es dilettantenhaft auszuüben.“ Stattdessen entdeckt sie ihre Liebe zur Schauspielerei. Ein Angebot, am Münchener Gärtnerplatztheater vorzusprechen, schlägt sie aus — und geht zurück nach Pilsen, dem neuen Standort ihrer Familie. „Das Leben war für mich in dieser Zeit ein buntes Kaleidoskop“, fasst sie die Zeit in ihrer unveröffentlichten Autobiographie zusammen. Zurück bei den Eltern beginnt sie zu schreiben, veranstaltet Lese- und Theaterabende. Bei einer dieser Veranstaltungen lernt sie den Offizier Friedrich Pirker kennen. Er ist anders als die anderen Verehrer — er kritisiert sie. Das macht ihn interessant. Heimlich verloben sie sich in der Schweiz. Das Paar streitet oft. Man habe Kompromisse eingehen und beide Lebenseinstellungen in Zusammenklang bringen müssen, schreibt Lotte später. Ihre Familie rät ihr, das Verlöbnis zu lösen. 1902 heiraten sie. Die Hochgzeitsreise führt sie in die Vereinigten Staaten — Eindrücke, die Lotte später schriftstellerisch verwerten wird. Nach einer nicht geglückten Bewirtschaftung eines Gutshofes in Böhmen und der Geburt eines Sohnes zieht die junge Familie 1908 nach Wien. Friedrich wird Beamter im Eisenbahnministerium, Lotte besucht eine Schauspielschule. Sie beginnt sich mit Politik zu beschäftigen, schreibt lyrische Kompositionen für die Arbeiter und für Frauen, tritt in Wirtshäusern und Vereinslokalen auf. Mit ihrer feministischen Kritik propagiert sie Frauenbilder, die sich keinen gesellschaftlichen Zwängen unterwerfen. Später wird Lotte Pirker schreiben, dies seien die ersten Jahre ihres Daseins gewesen, in denen sie sich „nutzbringend betätigen konnte“. Und sie geht viel spazieren, ihr ganzes Leben lang. Seit endlosen Jahren leiden sie, Seit endlosen Jahren beugen sie In stiller Demut ihr Haupt. LJ Die Ketten klirren an ihren Gelenken, Die hindern ihr Schreiten, fesseln ihr Denken, Und machen sie müde, verdrossen und dumm. LJ Frauen erwacht! [...] Erfasset, dass ihr Menschen seid. Menschen mit Sehnsucht nach Liebe und Glück, formt euch selber euer Geschick! Aus: „Frauen“, undatiertes Manuskript im Nachlass. Lotte Pirker verfasst zahlreiche Gedichte voller Lokalkolorit, die sie in der Arbeiter-Zeitung, Der Unzufriedenen und anderen