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sie viele Poesien. Diese Großstadtdichtung, die vom Alltag der kleinen Leute erzählt und die Sümmung in der Stadt einfängt, erinnert an die der jüdischen Dichterin Mascha Kal&ko („Das lyrische Stenogrammheft“), die sich in den zwanziger und dreiBiger Jahren in Berliner Boheme-Cafes herumtreibt. Die beiden Frauen verbinden einige Parallelen, was sie jedoch entscheidend trennt, sind die Kriegsjahre. Während Kaléko 1938 nach New York emigriert, bleibt Lotte Pirker in Wien. Es ist das Jahr, in dem ihr — im Ersten Weltkrieg schwer verwundeter und bis 1918 in russische Gefangenschaft geratener — Ehemann stirbt und sie zur Witwe macht. Er war schon Jahre zuvor alleine nach Chicago zu Verwandten ausgewandert. Viele ihrer Wiener Kiinstlerfreunde, darunter Juden und Linke, fliehen in diesen Jahren aus Österreich. Ihr Bekanntenkreis lichtet sich. Heimat Heimat ist wie ein Spinnennetz, In dem wir zappelnd hängen, Wenn auch alle Gedanken in uns Weit in die Ferne drängen. Haben endlich wir uns befreit Aus den hauchzarten Fängen, Sehn wir zu unserem größten Schreck Ein Stück unseres Herzens drin hängen. (Blüten vom Lebensbaum, 1957, S. 6) Vielleicht liegt in diesen Gedichtzeilen die Antwort auf die Frage, wieso sie in Wien verharrt, während ihre Kollegen aus Angst vor der Haft oder dem Tod fortgehen. Naheliegend ist überdies Lotte Pirkers tief verwurzelter Glaube an eine bessere Zukunft. Es ist anzunehmen, dass sie diese Flucht nach Innen, auch als Innere Emigration bezeichnet, als Protest und Widerstand gegen das Regime auffasst, das sie so sehr ablehnt, und das Bleiben gewissermaßen als Aufgabe begreift. Friedlos rinnen die Tage In Kälte und Dunkelheit hin, Was ist aus dir geworden Mein schönes, mein sonniges Wien? Klaffende Wunden zerfleischen Die stillen Straßen der Stadt, So müde sind deine Menschen So kraftlos und so matt. (Aus: „Armes Wien!“, 1945) Sie wirft sich den Mantel der Unauffälligkeit über. Ihre Wohnung in der Missindorfgasse im heutigen Wien-Penzing bleibt ihr erhalten. Wie sie die Kriegsjahre verbracht hat, kann aus den bis dato vorliegenden Quellen nicht abgelesen werden. Nach der Auflösung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei 1934, dem damit verbundenen Verlust ihrer politischen Ämter und dem Anschluss ans Deutsche Reich 1938 zieht sich die Schriftstellerin aus dem öffentlichen Leben zurück und stellt alle Publikationen ein. Ihre Stimme ist zum Schweigen gebracht worden. Stiller Kampf Immer schon, mein ganzes Leben, Kämpfte ich für Menschenrecht, Für ein starkes, tapfres, freies, 60 _ ZWISCHENWELT Lebensfreudiges Geschlecht. Und ich werde weiter kämpfen, Wenn auch nur im engen Kreis. Selbst wenn niemand, außer diesem, Von dem Kampfe etwas weiß. (Blüten vom Lebensbaum, 1957, S. 46) „Wieso ich Friedenskämpferin wurde“, heißt es im von Lotte Pirker verfassten Vorwort zu den Friedensgedichten, einer Lyrikanthologie verschiedenster Autoren, darunter auch Bertolt Brecht. Schon in der Münchener Akademie hatten sie die pazifistischen Reden aus dem Munde Rosa Luxemburgs fasziniert — ein Schlüsselmoment, Träume von einer besseren Welt. Aber erst später, „als wir den zweiten Weltkrieg durchlebten und durchzitterten, kam uns zum Bewusstsein, dass man Kriege weder durch Bilder, Worte und Gedichte Einzelner, noch durch die stillschweigende Duldung der Massen aus der Welt schaffen kann, sondern nur durch eine großzügige weltumspannende Friedensorganisation“, so die einleitenden Worte. Der Band enthält zwei lyrische Werke aus ihrer Feder. In dem Gedicht „Wie wir Wiener Kinder den Krieg erlebten“ wechseln sich Schilderungen von kriegsgebeutelten Einzelschicksalen aus der Bevölkerung und die Zeitungsberichterstattung über Kampfhandlungen und Blutvergießen an der Front ab. Die Rufe eines Sprechchors — „Extraausgabe! Extraausgabe!“ - schleichen sich rhythmisch zwischen die Strophen. Das zweite Gedicht trägt den Titel „Kriegsjugend“ (in einem älteren Entwurf noch „Die Jugend des ersten Weltkrieges“). Es stellt eine Art sozialistisches Manifest in Reimform dar, ein Appell, nicht auf rechte Gesinnungen hereinzufallen. Letztendlich ist es ein Abbild ihrer eigenen politischen Anschauung. Jugend glaubt nicht diesen Worten, Die euch locken allerorten! [J Glaubt nicht an das Dritte Reich, Wo dem Schlotbaron ihr gleich. Glaubt nicht, dass man Wunder schafft, Glaubt nur an die eigne Kraft, An den Aufstieg aller Klassen, ohne Unterschied der Rassen, LJ Lasst uns nicht auf Phrasen hören, Die uns Herz und Sinn betören, Haltet fest an unsern Rechten, Lasst uns für den Frieden fechten, Jugend euch gehört die Erde, Macht, dass sie euch Heimat werde! (Aus: „Kriegsjugend“, Friedensgedichte, nach 1945) Nach dem Zweiten Weltkrieg engagiert sich Lotte Pirker in der kommunistischen Partei für kulturelle Angelegenheiten und leitet zeitweise das Penzinger Kulturheim. Ihre öffentlichen Auftritte reduziert sie. Zu ihrem achtzigsten Geburtstag veröffentlicht sie 1957 im Europäischen Verlag den Gedichtband „Blüten vom Lebensbaum“. Es scheint, als ob sie — die ja einer Generation entstammte, die beide Weltkriege überlebt hatte — ab diesem Zeitpunkt den Kampf für den Frieden den Generationen nach ihr überlässt. Doch nun hab ich endlich mich gefunden.