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Mir, nur mir, gehöre ich fortan. Keinen Menschen gibt es hier auf Erden, Der mein Ich mir wieder rauben kann. (Aus: „Gefunden“, Blüten vom Lebensbaum, 1957, S. 41) Am 16. Dezember 1963 stirbt Lotte Pirker 86-jährig. Sie war beim Ordnen alter Erinnerungsstücke und Fotografien in ihrer Wohnung eingeschlafen und nicht wieder aufgewacht. Sie hinterlässt ein Stück österreichischer Literaturgeschichte: Worte von einer, die gegen den Strom dachte. Es sind nur Mosaiksteinchen, die ich in den Archiven zusammengesetzt habe. Lücken gibt es noch viele. Bunt und stark zeichnen Gerhard Scheit sich jedoch die Konturen dieses Bildes ab. Lotte Pirker: Das geraubte Ich und andere Grotesken. Wien 1925. Lotte Pirker: Blüten vom Lebensbaum. Gedichte. Wien 1957. Lotte Pirker: Das Leben war ein buntes Kaleidoskop. In: Hannes Stekl (Hg.): Höhere Töchter und Söhne aus gutem Haus. Bürgerliche Jugend in Monarchie und Republik. Wien 2000, S. 127-144. Anja Melzer, geb. 1989 in Niederbayern, lebt seit 2009 in Wien. Sie studierte Kunstgeschichte und Publizistik und arbeitet als freie Journalistin. Bemerkungen zu einer Biographie Georg Kneplers Kinder-Idylle am Abgrund des Ersten Weltkriegs: zwei Fotos, wie damals obligat aus dem Atelier in Wien oder Bad Ischl, die Georg Knepler als etwa Achtjährigen zusammen mit seinem jüngeren Bruder Walter zeigen. Das eine Mal sind die Knaben in lange dunkle Kinder-Militärmäntel gesteckt, die rechte Handzum Habt Acht an der Kappe, die linke am Kinder-Säbel; das andere Mal tragen sie leichte weiße Sommerkleider mit Stöckchen und Strohhüten. In der Biographie über den bedeutenden Musikwissenschaftler und Pianisten, die Gerhard Oberkofler und Manfred Mugrauer vorgelegt haben, finden sich die beiden Bilder im Kapitel über Elternhaus und Kindheit nebeneinandergestellt - und ihr Kontrast, der sich einem tief einprägt, ist an sich wohl der beste Ausgangspunkt für ein Buch über das Leben und die Arbeit Georg Kneplers. Er gehörte zu jener Generation von Kindern, die in Geburtstagsgedichten wie selbstverständlich den „Kuß“ für den Grofßpapa auf „Jeder Ruß’ ein Schuß“ oder so ähnlich reimten. Das spätere Leben - die Hinwendung zu Karl Kraus, den er in vielen Vorlesungen am Klavier begleitete und dem er 50 Jahre später ein Buch widmete — Karl Kraus liest Offenbach —; die Arbeit mit Hanns Eisler in Berlin vor dem Nationalsozialismus; sein Eintritt in die Kommunistische Partei 1933 und die Verhaftung in Wien unmittelbar vor dem Februaraufstand 1934; die Arbeit fiir das Austrian Centre im englischen Exil; schließlich die Tätigkeit für die KPÖ nach der Rückkehr nach Wien und die Ubersiedlung in die DDR und seine Arbeit als Hochschuldirektor und Universitätsprofessor während des Kalten Kriegs — es ist immer auch als perennierender Widerspruch zur einstigen „Bürgerwelt“ (Karl Kraus) zu verstehen, in der Georg Knepler aufwuchs. Die Autoren der Biographie legen aber das Augenmerk eher auf abstrakt aufgefasste Klassenverhältnisse, sie betrachten sie weniger im Geist von Karl Kraus und eigentlich auch nicht in dem von Karl Marx, sondern im Sinn einer marxistisch instrumentierten Milieutheorie. Das einzige Staunen, dem sie in ihrem Buch Ausdruck verleihen können, findet sich darum in dem Satz: „Nichts, ja gar nichts deutet daraufhin, dass in einem solchen familiären und gesellschaftlichen Umfeld mit GK [sic!] ein marxistischer Denker ersten Ranges heranwachsen würde.“ (S. 21) Um dieses Staunen zu mildern, ziehen sie kurioserweise am Beginn eine Parallele zu Walther von Vogelweide, der ebenfalls „für Gleichheit und Brüderlichkeit eingetreten“ sei und also das „Lob des Kommunismus“ gesungen habe, während etwa von Arthur Schnitzler, wie man einige Seiten später erfährt, eine „wirklich fortschrittliche Aussage ... nicht überliefert“ sei ($. 23). Unabhängig von solchen hanebüchenen Analogien und haarsträubenden Meinungen finden sich in diesem Kapitel jedoch wertvolle Informationen über Elternhaus und Verwandtschaft: über den Vater Paul Knepler, der als Verleger der Wallishauserschen Buchhandlung und Librettist von Lehärs Operetten hervortrat; den Onkel Hugo Knepler, der die berühmte, von Albert Gutmann gegründete Konzertagentur leitete und auch Feuilletonistisches fürs Neue Wiener Journal schrieb. Auch die Aussage allerdings, die aus einem dieser Artikel zitiert wird: dass der Prozentsatz der jüdischen Künstler „ein ganz enormer“ sei, gilt den Biographen offenbar nicht als fortschrittlich, im Stil der political correctness vermerken sie dazu: Was ihn und Theodor Gomperz veranlasst habe, „eine quasi rassistische Ahnenforschung zu betreiben“, könne „nicht eindeutig interpretiert werden“ (S. 14). Dass es die antisemitische Auffassung, Juden seien zu künstlerischem Schaffen nicht fähig, gewesen sein könnte, die Hugo Knepler zu dieser Bemerkung veranlasste, kommt ihnen nicht in den Sinn. Dabei gehören die späteren Passagen über die Antisemiten an der Universität, beidenen Georg Knepler Musikwissenschaft studierte, zu den Abschnitten des Buches, die wirklich überzeugen können. Hier decken die Autoren mit aller wünschenswerten Klarheit die Machenschaften dieser „Musiknazis“ auf, sei es Robert Lach oder Erich Schenk. Der Grund für dieses Gelingen liegt freilich auf der Hand: Die Milieutheorie setzt sich in der Faschismustheorie fort, das heißt, Antisemiten werden nur dann wahrgenommen, wenn sie zugleich als etwas wie Feinde der Arbeiterklasse und Knechte des Finanzkapitals inkriminiert werden können. Die Abkürzung „GK“, die sich durchs ganze Buch zicht, ist im Übrigen symptomatisch: Die Biographie ist aus parteikommunistischen Geist verfasst worden und liest sich stellenweise wie eine Kaderakte, noch dort, wo sie den Inhalt der zitierten Kaderakten kritisiert. Auszüge aus einem Briefwechsel mit Ernst Hermann Meyer oder ein ganzer Artikel Kneplers wie „Die geistigen Arbeiter und die Kommunisten“ von 1947 werden in den Text einfach November 2014 61