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den Schriften fanden sich hauptsächlich langwierige Berichte über die phantastische Übererfüllung des Fünfjahrplanes durch Stachanow-Arbeiter in obskuren Gebieten der Sowjetunion und Schmähungen der angeblichen Trotzkisten. Mich irritierte die dick aufgetragene Propaganda, und nach meiner Lektüre über die russische Revolution konnte ich die Anschuldigungen gegen die ehemaligen Politbüromitglieder, die zu den Gründern der Sowjetunion gehörten, nicht glauben. Nach kurzer Zeit fand ich es unverantwortlich, meinen Verbindungsmann mit diesem Material zu gefährden, und gab die mir nunmehr sinnlos erscheinende Tätigkeit auf. Ich war damit für alle Zeit gegen den real existierenden Kommunismus immunisiert. Ich traf Eva Kolmer in der Emigration in England wieder. Sie war dort eine führende Funktionärin in dem von Kommunisten dominierten Free Austrian Movement. Nach dem Krieg übersiedelte sie in die DDR, wo sie Universitätsprofessorin wurde. Sie starb 1991, also erlebte sie noch das Ende der DDR. Ich würde gerne wissen, was sie darüber dachte. In der Tschechoslowakei Meine Eltern hießen Rudolf und Juliane Pollatschek. Mein Vater war 1876, meine Mutter 1894 geboren. Ich kam 1918 zur Welt und blieb ein Einzelkind. Der Rufname Dorli blieb an mir haften. In meinem Elternhaus spielten weder Politik noch Religion eine Rolle. Wir waren assimilierte Juden. Mein Vater war Ingenieur. Er stammte aus Böhmen, meine Mutter war gebürtige Wienerin. Meine einzige Erinnerung an die Sozialdemokratie in meiner Kindheit ist der Justizpalastbrand 1927. Wir waren auf Ferien in Millstatt und ich hörte irgendetwas über Unruhen in Wien. Meine Eltern sagten mir, die bösen Sozialdemokraten hätten den Justizpalast in Brand gesteckt. Ich besuchte das Mädchengymnasium des Vereins für Beamtentöchter, eine christlich-konservativ geprägte Schule, wo ich überhaupt nicht hinpasste. Ich trat nach der sechsten Klasse aus und machte eine Ausbildung zur Kindergärtnerin. Es war eine Zeit großer Arbeitslosigkeit, und nachdem ich mein Befähigungszeugnis erworben hatte, war es mir nicht möglich eine Stellung zu finden. Da machte mir meine Mutter den Vorschlag, eine neugegründete Schule für Sozialfürsorge in Prag zu besuchen. Eine Tante aus Prag habe ihr darüber berichtet. Ich wurde ab Herbst 1937 Schülerin der Masarykschule für Sozial- und Gesundheitsfürsorge in Prag, wo ich die deutschsprachige Abteilung besuchte. Die Schule war nach dem Präsidenten der Tschechoslowakei Tomds G. Masaryk benannt. Ich wusste nur wenig über Sozialfürsorge bzw., wie man es jetzt nennt, Sozialarbeit. Ich war von dem Gebotenen fasziniert. Es gab einen großen Fächerkanon. Natürlich wurde in den einzelnen Unterrichtsgegenständen nur an der Oberfläche gekratzt. Trotzdem war es für mich eine Einführung in vieles, das mich interessierte, etwa Medizin, Volkswirtschaft, Soziologie und Psychologie. Ich schloss mich der Sozialistischen Jugend in Prag an. Es war eine ähnliche Gemeinschaft, wie ich sie schon vom Harand-Chor kannte. Ein großer Teil der Mitglieder waren Juden mit deutscher Muttersprache. Wieder Heimabende, Wanderungen, politische Vorträge und Debatten. Manchmal gab es Demonstrationen gegen die Henlein-Leute — das waren die Anhänger Hiders. Bei solchen Anlässen durfte ich die Fahne voran tragen, was ich mit Begeisterung tat. Ich lernte dort Marianne Adler („Maje“) kennen. Sie war einige , er‘ Praktikantin im Kindergarten der IKG, 1935, Simon: In der obersten Reihe, ganz links. Foto: Privatarchiv, M.D.Simon Jahre älter als ich und spielte in der Organisation wegen ihrer Intelligenz und einnehmenden Persönlichkeit eine führende Rolle. Mit ihr sollte mich in den folgenden Jahren in England eine langjährige Freundschaft verbinden. Während meines Aufenthalts in Prag fand im März 1938 der „Anschluss“ Österreichs an Hitler-Deutschland statt. Mir blieb erspart, diesen selbst zu erleben. In der Tschechoslowakei fühlten wir uns sicher, denn das Land war mit Frankreich und der Sowjetunion verbündet, und die Verbündeten würden sicher eine Invasion Deutschlands zu verhüten wissen. Die Sozialistische Jugend zog durch die Stadt skandierend „Praha, Moskva, Parize!“. Ich war dabei. Mein Vater hatte Verwandte in England, die wir aber nicht persönlich kannten. Trotzdem lud mich eine Kusine für die Sommerferien zu ihrer Familie nach London ein. Als ich im Juli 1938 den Zug bestieg, ahnte ich nicht, dass ich die nächsten sieben Jahre in England verbringen würde. Als Emigrantin in England Meine Gastgeberin in London hieß Florence du Vergier und wirkte wie eine Ur-Engländerin. Der französische Name stammte vom hugenottischen Ursprung ihres Mannes. Ihr Vater, ein Onkel meines Vaters, war als junger Mann aus Böhmen nach England ausgewandert. Florrie, Mitglied der Labour Party, war eine imposante Persönlichkeit. Sie war die erste weibliche Bezirksvorsteherin (Mayor) ihres Wohnbezirks Hackney. Sie übte das Amt 25 Jahre lang aus und machte sich um viele soziale Einrichtungen verdient. Im Jahr 1960 wurde zu ihrem Andenken ein öffentlicher Irinkbrunnen mit einer Inschrift errichtet. Dieser Brunnen wurde 2007 renoviert und war der Anlass für Gedenkveranstaltungen und Zeitungsartikel. Weilich schon zu lange die Gastfreundschaft der Familie du Vergier in Anspruch genommen hatte, suchte ich mir eine Arbeit. Meine Ausbildung als Kindergärtnerin war dabei nützlich. Zuerst arbeitete ich in einem Heim für geistig behinderte Kinder in Sussex. Später, als ich gerne wieder in London leben wollte, wurde ich Nanny bei englischen Familien. Ich bedauerte schon lange, dass ich die Schule ohne zu maturieren abgebrochen hatte. Nun besuchte ich in meiner Freizeit einen Abendkurs, der mir die englische Hochschulreife brachte. November 2014 65