OCR
Mein Vater hatte in Prag im Unternehmen seiner Geschwister Beschäftigung gefunden. Im Februar 1939 kam er auf einer Geschäftsreise nach London. Meine Eltern waren politisch schr naiv und sahen nicht die Bedrohung durch Hitler-Deutschland. Ich konnte meinen Vater jedoch überreden, mit der Rückreise noch zuzuwarten. Nur kurze Zeit später erfolgte die Besetzung der Tschechoslowakei. Zum zweiten Mal war ich durch unglaubliches Glück den Nazis entwischt. Mein Vater und ich teilten eine Wohnung mit drei anderen Emigranten. Was meine Mutter betraf, so konnten die verfolgten Juden jetzt nur mehr mit einem Visum unter strengen Auflagen nach England einreisen. Obwohl mein Vater ihr die Einreiseerlaubnis verschaffte, zögerte meine Mutter mit dem Kommen. Sie fürchtete offensichtlich ein Leben als Flüchtling und dachte, der Spuk werde vorübergehen. Sie versäumte auch die letzte Gelegenheit zur Ausreise vor dem Kriegsausbruch. Wir wussten damals nicht, dass das ein Todesurteil war. Erfahrungen mit der Politik In London traf ich viele meiner alten Bekannten aus dem Verband Sozialistischer Mittelschüler wieder. Unter ihnen waren Walter Hacker, Anton und Martha Straka, Marga und Philipp Rieger, Friedrich und Herta Scheu, Walter und Jenny Zundel. Peter Strasser und seine Frau Jenny waren nach Frankreich gefliichtet, Alois Reitbauer und Marianne Blum, seine künftige Frau, nach Schweden. Nicht alle waren rassistisch verfolgt, sondern sie Hlüchteten teils aus Angst vor politischer Verfolgung, teils aus persönlichen Gründen, meist aber aus einer Mischung von beidem. Walter Hacker war damals mein Freund. Wir hatten acht Jahre lang eine schwierige Beziehung, bevor wir uns endgültig trennten. Der gesellige Mittelpunkt für die Emigranten in London war das Austrian Centre. Es wurde 1939 gegründet und stand unter dem Einfluss der Kommunisten, was aber den meisten der eifrigen Besucher nicht bekannt war. Dachorganisation war das als politisch neutral deklarierte Free Austrian Movement, welches aber in Wirklichkeit eine von Moskau gelenkte Tarn-Organisation war. Die Gründung und Führung des Austrian Centre war tatsächlich eine große Leistung. Es verfolgte eine politische, kulturelle und soziale Agenda. Es gab ein Restaurant, ein Kaffechaus, eine Kleinkunstbühne, künstlerische und gesellige Veranstaltungen. Mein Vater und ich waren oft dort, denn man traf Bekannte oder konnte einen Vortrag, ein Theaterstück, ein Konzert oder ein Kabarett erleben. Mein Vater lernte dort die Frau kennen, die er später in zweiter Ehe heiratete. Die Leiter nannten sich Fritzund Emmy Walter. Faktisch waren sie kommunistische Agenten namens Berta und Otto Brichacek. Ich wusste bald, was hinter den angeblich überpolitischen Aktivitäten stand, denn auch meine alte Bekannte Eva Kolmer zog dort die Fäden. Sie unterzogen viele gutgläubige Jugendliche einer Gehirnwäsche und veranlassten sie, nach dem Krieg voll von Illusionen nach Österreich zurückzukehren. Nachkommen von ihnen, wie z.B. Sonja Frank, singen noch heute in Österreich ein Loblied auf das Austrian Centre. Wäre es nach dem Willen seiner Leitung gegangen, wäre Österreich nach dem Krieg nicht frei und demokratisch, sondern ein Teil des Ostblocks geworden. Den Brichaceks wurde ihr Engagement nach ihrer Rückkehr nach Österreich von der kommunistischen Partei schlecht gelohnt. In der paranoiden Welt der Sowjetunion machte sie ihr Aufenthalt 66 _ZWISCHENWELT in England verdächtig. Sie hatten nur untergeordnete Stellungen, wurden zeitweise ausgeschlossen und wieder rehabilitiert, blieben aber bis zu ihrem Tod vor einigen Jahren unerschütterliche Parteigänger. Sie hatten eine Tochter, Elisabeth Rizy, die auch jetzt noch ein prominentes Mitglied der Kommunistischen Intiative (KD), einer marxistisch-leninistischen Splittergruppe links von der KPO, ist. Das London Büro der österreichischen Sozialisten wurde 1941 gegründet. Es war kein gesellschaftliches Zentrum wie das Austrian Centre, sondern eine politische Exilorganisation, die ihr eigenes Süppchen kochte. Sie versuchten nicht unter den Emigranten zu missionieren, wie es das Free Austrian Movement tat. Die führenden Funktionäre waren Oscar Pollak und Karl Czernetz. Hiezu kam noch ein Zuwanderer aus dem schwedischen Exil, der Gewerkschafter Franz Novy. Dem Biiro angeschlossen war der Treffpunkt der emigrierten Sozialdemokraten, der Austrian Labour Club. Obwohl dort nicht viel los war, hielt ich mich manchmal dort auf. Bei einem meiner Besuche lernte ich Hilde Monte kennen. Sie war eine attraktive junge Frau mit Ausstrahlung, nur wenig alter als ich. Ich war überrascht, mit wie viel Respekt sie behandelt wurde, und sie schien mir irgendwie geheimnisvoll. Erst viel später erfuhr ich ihre Lebensgeschichte. Sie war Jüdin, ihr wahrer Name war Hilde Meisel. Sie war in Wien geboren, wuchs aber in Deutschland auf. Obwohl noch sehr jung, rief sie im englischen Exil in Zeitschriften, Büchern und Rundfunksendungen zum Widerstand gegen die Nationalsozialisten auf. Sie nahm wiederholt an geheimen Aktionen gegen die Nazis und ihre Verbündeten in Deutschland, Österreich, Portugal und Frankreich teil. 1945 wollte sie vom Tessin aus Verbindung zu Widerstandskämpfern in Österreich aufnehmen. Dabei wurde sie an der Schweizer Grenze von Grenzwächtern angehalten und bei einem Fluchtversuch erschossen. Sie wurde nur 30 Jahre alt. Während wir über Widerstand redeten, hat Hilde Monte gehandelt. Zu wenige wissen von ihr. Nur im Jüdischen Museum in Hohenems wird ihrer gedacht. In London gab es politische Exilantengruppen aller Schattierungen. Die meisten zerfleischten sich in Fraktionskämpfen. Alle machten Pläne für eine glorreiche Zukunft ihrer Partei nach dem Sieg über Hitler-Deutschland. Diese blieben meist Hirngespinste. Ich hatte in London auch meine Freundin von der Sozialistischen Jugend aus Prag Maje Adler wieder getroffen. Sie heiratete in England Ernst Loewenheim, welcher zusammen mit seinem Bruder Walter Loewenheim eine solche sozialistische Splittergruppe in Deutschland mit dem Namen Neu Beginnen gegründet hatte. Diese sollte die Differenzen zwischen der KPD und der SPD überwinden. Auch im Londoner Exil wurde diese Gruppe fortgeführt und ich nahm an den Treffen teil. Nur einer ihrer führenden Köpfe spielte im Nachkriegsdeutschland eine Rolle: Richard Löwenthal, den ich in London unter seinem Decknamen Paul Sering kannte. Er wurde Universitätsprofessor und gilt als bedeutender Iheoretiker des demokratischen Sozialismus. Bekanntschaft mit Anna Freud und der Psychoanalyse Ich wurde durch die tschechische Exilregierung als Flüchtling anerkannt und erhielt eine bescheidene finanzielle Unterstützung. Ich wollte aber nicht auf der faulen Haut liegen. Ich hatte schon in