OCR
vorausgesagte Katastrophe. Die Kinder lärmten und richteten Schaden an. Zum Beispiel schlug der Zweieinhalbjährige mit einem Hammer den frischen Putz von der Wand. Als wir ihn stoppen wollten, schrie er empört: „Bubi arbeiten!“ Wir bezogen unsere eigene Wohnung, noch bevor die Arbeiten an dem Haus beendet waren. Die Wände trieften vor Feuchtigkeit, statt einer Eingangstür befestigten wir einen Teppich. Joseph legte die amerikanische Staatsbürgerschaft zurück, dadurch wurden wir alle zu Österreichern. Er wollte nun seine Ausbildung zum Rechtsanwalt, die er bei seiner Emigration nach Dänemark hatte unterbrechen müssen, zu Ende bringen. Er hatte damals noch nicht einmal das Gerichtsjahr abgeschlossen. Das holte er jetzt nach, danach musste er sechs Jahre als Rechtsanwaltsanwärter arbeiten. Ich hatte lange gebraucht, mich im Land wieder einzugewöhnen. Nicht dass ich persönlich Anfeindungen ausgesetzt gewesen wäre. Unter Antisemitismus hatte ich wirklich niemals zu leiden. Ich litt mehr darunter, dass ich in Österreich keine beruflichen Möglichkeiten fand. Ich musste feststellen, dass ich es schwer hatte, wenn ich nicht politische Verbindungen ausspielen wollte. Das lehnte ich jahrelang ab, denn ich wollte eine adäquate Arbeit auf Grund dessen, was ich konnte, nicht dessen, wen ich kannte. Viele alte Freunde von Joseph aus der sozialistischen Jugendbewegung kehrten in diesen Jahren aus der Emigration zurück. Sie fanden gute Positionen im Einflussbereich der SPÖ. Walter Hacker wurde Chefredakteur der Zeitung „Neues Österreich“, danach Leiter der Sozialistischen Korrespondenz. Peter Strasser wurde Abgeordneter zum Nationalrat, Toni Straka Polizeipräsident von Wien, Alois Reitbauer Diplomat, Friedl Scheu Redakteur der Arbeiter-Zeitung, Philipp Rieger Ökonom in der Arbeiterkammer, später Vorstandsmitglied der Nationalbank. Schließlich sagte ich mir, wenn ich nun schon in Österreich lebe, hat es keinen Sinn ewig in der inneren Emigration zu bleiben. Ich muss mich dann eben den lokalen Sitten fügen. Ich gab klein bei und trat dem Bund Sozialistischer Akademiker (BSA) bei. Von da an ging alles glatt. Ich war dann viele Jahre beim BSA im Vorstand der Psychologen und der Frauen-Arbeitsgemeinschaft. Bei letzterer fand ich mich in Gesellschaft von Ministerin Hertha Firnberg, Minna Lachs (bekannte Schuldirektorin), Ella Lingens und Barbara Rudas (Ärztin und Grof$mutter der Politikerin Laura Rudas). Von ehemaligen Nazis, mit denen sich Joseph bei den Juristen herumschlagen musste, bemerkte ich in meinen Sektionen nichts. Am Institut für Höhere Studien Im Jahr 1963 ergab sich für mich die Möglichkeit, eine Stellung am Institut für Höhere Studien (IHS) anzutreten. Das Institut war eine Neugründung, die über Initiative der gebürtigen Österreicher und in die USA emigrierten Wissenschafter Paul Lazarsfeld und Oskar Morgenstern zustande kam. Die Aufgabe des IHS war, jungen Sozialwissenschaftern die Möglichkeit zur Fortbildung, insbesondere in den modernen statistisch-mathematischen Forschungsmethoden, zu geben. Die Mittel kamen von der amerikanischen Fordstiftung und von der österreichischen Bundesregierung. Ein neues Institutsgebäude wurde von der Stadt Wien zur Verfügung gestellt. Die administrative Konstruktion war sonderbar: Im Kuratorium waren die Spitzen der Regierung und Politik paritätisch vertreten 70 ZWISCHENWELT — zur Hälfte sozialistisch, zur Hälfte konservativ. Der spätere Bundeskanzler Kreisky war Vorsitzender. Es gab zwei Direktoren, einen von jeder der zwei großen politischen Parteien. Diese wechselten fast im Jahresrhythmus. Das Institut unterhielt vier Abteilungen: Volkswirtschaftslehre, fiir Politologie, Soziologie und Formalwissenschaften (Wissenschaftstheorie, Mathematik und Statistik). Professoren gab es keine, sondern nur Assistenten als Tutoren fiir Lehre und Forschung, Alle 50 Studierenden hatten ein abgeschlossenes Universitatsstudium. Sie wurden als Scholaren bezeichnet und waren Stipendiaten. Der Lehrbetrieb wurde von den Assistenten und renommierten Gastprofessoren bestritten. Generalsekretärin wurde auf Wunsch von Lazarsfeld Freda Meissner-Blau, die damals noch Pawloff hieß. An diesem Institut fand ich also eine Anstellung als Assistentin an der Abteilung für Soziologie. Andere Assistenten aus meinem sozialistischen Bekanntenkreis waren Peter Milford (Sohn des ehemaligen deutschen Finanzministers Rudolf Hilferding), Gertrude Wagner (chemalige Mitarbeiterin an der Untersuchung „Die Arbeitslosen von Marienthal“) und Erna (Nuna) Sailer (Gattin von Hans Karl Sailer, ehemals Leiter des Zentralkomitees der Revolutionären Sozialisten in der Schuschnigg-Zeit). Durch den ständigen Direktorenwechsel war für Chaos gesorgt. Die Zwischenwand zwischen den Büros der beiden Direktoren wurde abwechselnd niedergerissen und wieder aufgerichtet. Es hieß, dass Kreisky gerne Direktoren einsetzte, die bei ihm an anderer Stelle in Ungnade gefallen waren. Das traf gewiss auf Adolf Kozlik zu. Unser alter Freund Kozlik war aus der Emigration in Mexiko nach Wien zurückgekehrt. Zuerst wurde er Direktor des Volksbildungshauses Urania. Dort lag er bald mit anderen Personen, die dort mitmischten, im Clinch. Dies traf insbesondere auf das Ehepaar Hanak zu. Filde und Jacques Hanak gehörten zur alten Garde der Sozialisten. Hilde war früher mit Otto Bauer liiert gewesen. Sie wurde auch Nachfolgerin von Kozlik als Direktorin der Urania.° Kozlik wurde also Direktor am IHS. Er schaffte es, sich binnen kurzer Zeit mit allen zu zerstreiten. Nach einem Jahr verließ er verbittert nicht nur das Institut, sondern auch Österreich. Er hatte eine Stelle an einer kanadischen Universität angenommen. Auf dem Weg nach Kanada, auf der Durchreise in Paris, erlag er einem Herzinfarkt. Ich selbst verbrachte am IHS anregende sechs Jahre. Ich lernte eine Menge über Sozialforschung und hatte Gelegenheit, berühmte Gastvortragende zu hören. Unter ihnen waren z.B. die Psychologin Charlotte Bühler, der Ökonom Friedrich v. Hayek und Henry Kissinger. Ich war in erster Linie in sozialpsychologische Forschung eingebunden, die ich größtenteils zusammen mit Gastprofessoren und Institutsmitgliedern durchführte. Darunter war eine Erhebung über Sozialarbeit in Österreich, gemeinsam mit Elisabeth Schilder, der Gründerin der Bewährungshilfe. Schließlich führte eine Untersuchung über die Lage unverheirateter junger Mütter zum nächsten Abschnitt meines Lebens. Die Schule für Soziale Arbeit Eine Anstellung als wissenschaftliche Mitarbeiterin am IHS war zeitlich begrenzt. Nach sechs Jahren musste ich mich nach einer anderen Tätigkeit umsehen. Meine Untersuchung über die