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unverheirateten Mütter war eine Auftragsarbeit des Jugendamtes. Durch sie kam ich in Verbindung mit dem Leiter des Instituts für Heimerziehung der Stadt Wien. Ex suchte jemanden für den Aufbau einer Stelle für sozialpädagogische Grundlagenforschung und bot mir diese Stelle an. Das Angebot akzeptierte ich gerne. Das Institut für Heimerziehung, später in Institut für Sozialpädagogik umbenannt, war dem städtischen Jugendamt unterstellt. Dieses Amt war eine der größten Abteilungen der Stadtverwaltung mit über 5.000 Mitarbeitern. An der Spitze stand ein Obersenatsrat Dr. P, ein mächtiger Beamter. Zu seinem Ressort gehörte unter anderem auch die Lehranstalt für gehobene Sozialberufe, die ehemalige Fürsorgeschule. Ich hatte mich kaum in meine neue Tätigkeit am Institut für Heimerziehung einzuarbeiten begonnen, als mich ein Anruf des Dr. P erreichte, ich solle in sein Büro kommen. Dort fragte er mich, ob ich die Direktorin der Lehranstalt für gehobene Sozialberufe werden wolle. Ich war total perplex, denn ich hatte mich gar nicht beworben. Der Obersenatsrat hatte mich nur einmal bei einer kleinen Fachkonferenz geschen, wo ich ihm möglicherweise bei einer Wortmeldung aufgefallen war. Später erfuhr ich, dass er meine Vorgängerin loswerden wollte und sie an die neugegründete Schule des Bundes vermittelt hatte. Was mich betraf, hatte er sich nur bei meiner Freundin Anne Kohn-Feuermann, Sozialarbeiterin bei der Gemeinde Wien und Rückkehrerin aus dem schottischen Exil, erkundigt, ob ich bei der richtigen Partei sei. Sie hatte ihm versichert, dass ich und insbesondere mein Mann alter roter Adel seien. Nach meinen Qualifikationen fragte er nicht. Für mich war diese Stelle die Erfüllung eines Traums. Hier möchte ich noch eine Rückblende einfügen. Eine meiner Vorgängerinnen war Nuna Sailer, die, wie ich erwähnt habe, ebenfalls am IHS Assistentin gewesen war. Sie war Juristin und wurde nach ihrer Rückkehr aus der Emigration in den USA eine Zeit lang Leiterin der Fürsorgeschule. Sie sprach verächtlich über ihre Arbeit, die sie offenbar unter ihrer Würde fand, ich konnte das nicht verstehen. Ich fand, es gäbe nichts Erstrebenswerteres als soziale Arbeit und Ausbildung auf einen zeitgemäßen Stand zu bringen. Nun war mir diese Möglichkeit viele Jahre später ganz unerwartet in den Schoß gefallen. Auch Nuna konnte ihren Ehrgeiz befriedigen: Sie wurde österreichische Botschafterin in Indien. Ich hätte nicht mit ihr tauschen wollen. Es ist hier nicht der Platz, über die folgenden 13 Jahre zu berichten, die ich bis zu meiner Pensionierung 1983 als Direktorin der Schule verbrachte. Nur so viel: Diese Jahre brachten einen Aufschwung in Beruf und Ausbildung, und schließlich - nach meiner aktiven Zeit — den Anschluss an internationale Standards.’ Aus dem wenig beliebten Beruf der Fürsorgerin wurde die geachtete Profession der Sozialarbeit. Ich und die Politik: Bilanz Ich bin von Natur aus kein zoon politikon. Ich habe nie ein politisches Amt angestrebt. Aus der Gewerkschaft der Gemeindebediensteten, bei der Zwangsmitgliedschaft herrschte, trat ich am Tag meiner Versetzung in den Ruhestand aus.® Aus Unterschriftenaktionen und Demonstrationen halte ich mich möglichst heraus. Das letzte Mal war ich 1993 beim „Lichtermeer“, einer Großdemonstration gegen Fremdenfeindlichkeit. Sie blieb leider ohne Wirkung. Seit meiner Rückkehr nach Österreich 1947 stand ich allen politischen Parteien skeptisch gegenüber. Ich habe im Laufe der Zeit, je nach Anlass, schon sämtliche Parteien gewählt, mit Ausnahme der Kommunisten und der Freiheitlichen. Ich will aber nicht das Kind mit dem Bad ausschütten. Ich schätze es, dass Österreich trotz aller Mängel eine Demokratie und ein Rechtsstaat ist. Das Land ist nicht so sozial wie die skandinavischen Länder, aber auch nicht so faschistoid wie Ungarn. Wenn ich mich im Spektrum der politischen Ideologien positionieren sollte, würde ich mich als linksliberal bezeichnen. Da bin ich derzeit politisch heimatlos. Maria Dorothea Simon, geb. 1918 in Wien, berichtete bereits in ZW Nr. 1-2/2008 über ihre „Rückkehr in die Fremde“ (nach Österreich). Anmerkungen 1 Vgl. G. Fritzl: Adolf Kozlik. Ökonom, Emigrant und Rebell. Frankfurt/M. 2004. 2 Vgl. M. Bearman et al.: Out of Austria. The Austrian Centre in London in World War II. Tauris Academic Studies 2008. (Deutsch: Wien — London, hin und retour. Das Austrian Centre in London 1939 bis 1947. Wien 2004). 3 Der „Beveridge Report“ war ein einflussreiches Dokument, mit dem in Großbritannien 1945 der Wohlfahrtsstaat begründet wurde. 4 Die Partei hieß ursprünglich bis zu ihrem Verbot 1934 Sozialdemokratische Abeiter-Partei, von 1945 bis 1991 Sozialistische Partei und danach Sozialdemokratische Partei Österreichs. 5 Joseph T. Simon: Augenzeuge. Erinnerungen eines österreichischen Sozialisten. Wien, Berlin 2008. (Zuerst erschienen 1979). 6 Die Hanaks hinterließen der Gemeinde Wien ein großes Grundstück am Pötzleinsdorfer Park mit der Auflage, es für einen sozialen Zweck zu verwenden. Die Gemeinde verkaufte das Grundstück an eine Baugesellschaft, die dort Luxuseigentumswohnungen errichtete, die teuer verkauft wurden. 7 Die Lehranstalt für gehobene Sozialberufe wurde 1976 zur Akademie für Sozialarbeit. Seit 2002 ist die Ausbildung an Fachhochschulen angesiedelt, die nicht mehr wie zuvor einzelnen Gebietskörperschaften oder kirchlichen Einrichtungen, sondern dem Wissenschaftsministerium unterstehen. 8 Bei dieser Gewerkschaft sind Arbeitgeber und Arbeitnehmer in der gleichen Hand. Mein Vorgesetzter Obersenatsrat Dr. P. war gleichzeitig Repräsentant des Arbeitsgebers, der Gemeinde Wien, und Gewerkschaftsvertreter. Man nennt das eine gelbe Gewerkschaft. November 2014 71