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REZENSIONEN In der ‚Provinz‘ hatten sie begonnen, die Februarkämpfe 1934. Nicht zufällig, wie wir aus einer fundierten langfristigen Strukturanalyse im neuen Sammelband erfahren. Nicht zufällig fand auch die einzige wissenschaftliche Veranstaltung, deren Beiträge den Inhalt des Buches bilden, anlässlich der achtzigsten Gedenktage in der ‚Provinz‘ statt, am 10. und 11. Februar 2014 an Orten vormaliger heftiger Kampfe, Graz und Bruck an der Mur. Maßgeblichen Anteil an Symposion und Publikation hatten die beiden Herausgeber des Buches, Werner Anzengruber, als Jurist und Historiker Bereichsleiter für Soziales und Außenstellen der Arbeiterkammer Steiermark, und der Historiker Heimo Halbrainer, Leiter von Clio, dem steirischen Verein für Geschichtsund Bildungsarbeit. Explizites Ziel der Tagung war es, die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Vorjahre! zu reflektieren, zu vertiefen und zu ergänzen und steirische Spezifika, dem Untertitel Austrofaschismus in der Steiermark entsprechend, aufzuzeigen. Die Tagungsreferate lieferten neben den Herausgebern bekannte in Graz ansässige und aus Wien angereiste HistorikerInnen, die ihre Kompetenz — je nach wissenschaftlichem und/oder weltanschaulichem Standort — zum Thema Austrofaschismus, Diktatur oder Ständestaat in diversen Publikationen belegt haben. Bisher wenigbekannte Einblicke ermöglichen zudem drei „Außenseiter“, lokale Historiker und Germanisten. Gefördert wurde das Buch, dessen niedriger Preis auf eine wünschenswerte breite Rezeption zielt, durch Mittel der Sozialdemokratischen Partei Steiermark, der Kammer für Arbeiter und Angestellte für Steiermark sowie der Fraktion Sozialdemokratischer Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter in der Arbeiterkammer. Der Buchtitel Unrecht im Sinne des Rechtsstaates nimmt Anleihe bei dem Etikett, das die Republik Österreich dem politischen Regime zwischen den Vor-Iden des März 1933 und 1938 in einem späten gesetzlichen Meilenstein 2011 verlieh. Wie Werner Anzengruber die komplexe und langwierige Genese des Aufhebungs- und Rehabilitierungsgesetzes, das aufjenem für Wehrmachtsdeserteure aufbauen konnte, nachzeichnet, ist spannend. Er analysiert das Gesetz selbst, wobei er vor allem auf die Arbeit der Rechtshistorikerin Ilse Reiter-Zatloukal verweist, und beleuchtet Prozesse und Rollen von ProtagonistInnen wie Albert Steinhauser oder Barbara Prammer, von politischen und medialen Institutionen sowie von zwei Historiographen, Oliver Rathkolb und Helmut Wohnout, die mit ihrem Konzept für die Rehabilitierung der Justizopfer und der wissenschaftlichen Begleitung des parlamentarischen Prozesses selbst zu einem Teil der (Nach-) Geschichte wurden. Der Begriff Austrofaschismus findet sich nicht im Gesetz, für Anzengruber ein Manko. Im Buch 72 ZWISCHENWELT bildet die Auseinandersetzung mit dem Begriff, als einem der letzten politisch und historiographisch wortreich umkämpften Felsen der Diktion der Analyse, einen Fokus. Neu entflammt hatte die Diskussion der Austrofaschismus-Doyen Emmerich Tälos?, der trotz Abwesenheit als Reibe- oder Referenzpunkt in der Tagung präsent war. Den zeitgenössischen Referenzrahmen und den pragmatischen Umgang mit Begriffen auf Seiten der Rechten belegt Florian Wenninger, der am Wiener Institut für Zeitgeschichte das Forschungsprojekt zu Repressionsmaßnahmen in Österreich 1933 bis 1938 koordiniert und an einer Dissertation zum geschichtspolitischen Umgang mit dem Austrofaschismus nach 1945 arbeitet. In seinem Beitrag Der Faschist als Alien erklärt er die exklusive Zuschreibung des Faschismus zu den Heimwehren mit Nachkriegsdiskursen: „Sowohl die Annahme eines gewissermaßen urwüchsigen deutschnationalen ‚Lagers‘ als auch die Interpretationen der Heimwehren als eigenständiger politischer Faktor, der aufeigene Faust die Faschisierung des Staates vorangetrieben habe, werden verständlich vor dem Hintergrund zweier unterschiedlicher Legitimationsdiskurse in der Zweiten Republik. Ihr Kernanliegen war die Konstruktion des Faschisten als prototypischen Alien, die Externalisierung von Bewegungen, diein Wirklichkeit tiefin einem gemeinsamen, wenn auch zerklüfteten bürgerlichen Milieu wurzelten.“ Der Grazer Universitätsprofessor für Allgemeine Zeitgeschichte Helmut Konrad kommt nach der differenzierten Darstellung von klassischen und aktuellen Faschismustheorien zu dem Schluss, es sei zielführender, die Jahre 1933/34 bis 1938 unter einem konsequenten Ansatz aus der Modernisierungstheorie zu betrachten. Das Dollfuß-Schuschnigg-Regime charakterisiert er als eine „antimoderne, imitationsfaschistische Diktatur“. Auch Karin M. Schmidlechner, dieam Institut für Geschichte/Zeitgeschichte der KarlFranzens-Universität lehrt, konstatiert in ihrem Beitrag zur „austrofaschistischen Geschlechterpolitik“ starke Bezüge zu vormodernen Gesellschaftsentwürfen und beschreibt die in der Realität nie umgesetzte Vision eines Geschlechterbildes, das gottgewollte Geschlechterdifferenzen sowie eine antiurbane und antimoderne Grundhaltung mit dem bäuerlichen Haus im Zentrum, dem nach außen orientierten Hausvater und der Bäuerin als Hausmutter und Hüterin des christlichen Familienideals widerspiegelt.? Mit einem Zitat aus dem Jahr 1946 lässt Heimo Halbrainer den damaligen Bundeskanzler Leopold Figl zur Diskussion beitragen: „Machen wir vor allem Schluss mit den Schlagworten von Austromarxismus und Austrofaschismus, die uns heute nichts mehr sagen und die uns auch künftig hoffentlich niemals mehr etwas sagen werden. Wir haben uns in diesen schweren Tagen des ersten Wiederaufbaues gemeinsam zusammengesetzt, um unser neues Haus zu bauen. Der Sozialist und der christliche Bauer, der Kommunist und der Heimwehrmann, der Schutzbündler und der Freiheitsbündler, ja sagen wir es nur ganz offen und ehrlich, der Austromarxist und der Austrofaschist vom Jahre 1934.“4 Helmut Wohnout, Geschäftsführer des Karl von Vogelsang-Instituts und Privatdozent an der Universität Graz, argumentiert gegen beide Begriffe, Ständestaat und Austrofaschismus, und plädiert erneut für seine Kategorisierung als Kanzlerdiktatur. Dollfuß habe im März 1933 — angesichts der Entschlossenheit Hitlers, das Land zum Satelliten zu machen, und des enormen Drucks seitens Mussolinis — das Gesetz des politischen Handelns an sich gerissen und bis zum Juli 1934 in keiner Phase aus der Hand gegeben. Auf die Person des Kanzlers fokussiert auch Lucile Dreidemy, die an der Universität Strasbourg arbeitende Historikerin und Germanistin, in ihrem Beitrag, „Ein Toter führt uns an.“ Charakteristika des austrofaschistischen Führerkults: „Der Austrofaschismus ist zurück, und in erster Linie dessen Gründungsvater der Bundeskanzler und Diktator Engelbert Dollfuß, eine der kontroversesten Persönlichkeiten der österreichischen Zeitgeschichte.“ Er habe sehr bewusst an seiner Selbstinszenierung und an der Etablierung des Mythos gearbeitet. Das im Februar 1934 verhüllte, mitden Symbolen des neuen Regimes und einem Porträt von Dollfuß versehene Denkmal der Ersten Republik’ analysiert die Autorin als die visuelle Inszenierung der autokratischen Wende. Diese symbolbeladene Transformation hat den Künstler und Kunsterzieher Georg Rigerl zu einer, als Titelbild gewahlten Collage inspiriert, in der die Episode des Kruckenkreuzes ein nachrangiges Insert bleibt. In der Literatur, durch die der Schriftsteller und Germanist Christian Teissl („Langer Nachhall, verzögertes Echo“) einen Streifzug unternimmt, werden dem bekanntesten Opfer der Februarkämpfe Wortdenkmäler gesetzt, das beinahe „religiös überhöht“ (Helmut Konrad) wird. Bertolt Brecht schrieb die Koloman-WallischKantate, Anna Seghers über den „Letzten Weg des Koloman Wallisch“, erstmals in der Exilzeitschrift Neue deutsche Blätter erschienen, und nunmehr im Hackl/Polt-Heinzl-Buch /m Kältefieber” seinen besser zugänglichen Platz findet. Die Fülle an Dramen, Romanen, Erzählungen und Gedichten, die in der Exilpresse zwischen Prag und Paris erschienen war, sei kaum ins öffentliche Bewusstsein gedrungen, als Exilliteratur ignoriert oder als „stalinistisch“ verpönt und verfemt worden, schreibt Teissl. Auch der Roman Gefangen zwischen zwei Kriegen von Kurt Neumann, der als Redakteur des Arbeiterwillen