OCR
zum Generalstreik aufgerufen hatte, wurde erst siebzig Jahre nach seiner Entstehung gedruckt und rezipiert.’ Für Christian Teissl bedeutet der Februar 1934 eine tiefe Zäsur: „Zugleich war die sozialdemokratisch geprägte Arbeiterkultur der Zwischenkriegszeit unwiederbringlich dahin und damit auch die Grundlage einer engagierten proletarischen Literatur.“ Die politischen und juristischen Hintergründe der’Tötung des Brucker Schutzbundführers und Nationalratsabgeordneten Wallisch, aber auch des an den Kämpfen unbeteiligten Arbeiterkämmerers Josef Stanek, skizziert der Rechtshistoriker und Vizerektor der Universität Graz, Martin F. Polaschek, im Rahmen seiner umfassenden Analyse der Februarjustiz. Nach Hinrichtungen in Wien und St. Pölten sei die Erwartungshaltung an die steirische Justiz hoch gewesen, beschreibt der Autor ein tödliches Motiv. Selbst an das Recht des Unrechtstaates hatte sich Justizminister Schuschnigg nicht gehalten. So leitete er das Gnadengesuch des Verteidigers von Koloman Wallisch nicht wie gesetzlich vorgeschrieben an den Bundespräsidenten weiter. Heimo Halbrainer dokumentiert — zusätzlich zur Julijustiz — die weitere Verfolgung der Arbeiterparteien und -organisationen. So verhängten steirische Gerichte für angebliche kommunistische Propaganda Strafen bis zu zwölf Jahren schweren Kerkers. In ihrem, ebenfalls auf umfassendem Aktenstudium basierenden Beitrag geht die Historikerin und Provenienzforscherin Pia Schölnberger, deren Dissertation über das Anhaltelager Wöllersdorf 2013 mit dem Herbert-Steiner-Preis ausgezeichnet wurde, auf die neue Form und Dimension der Repression gegen politisch Oppositionelle ein, die in der Steiermark auch im Anhaltelager Messendorffestgehalten wurden. Sie verortet die Lager im Vergleich zu den Konzentrationslagern und analysiert den Nachkriegsdiskurs. Eines der aussagekräftigen Fotos des Buches zeigt die Mahnmalenthüllung 1974 durch den früheren Wöllersdorf-Insassen Bundeskanzler Bruno Kreisky. Briiche halt Ute Sonnleitner, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut fiir Geschichte/Zeitgeschichte der Uni Graz, anhand ihrer Analyse des Widerstands gegen den Austrofaschismus fest. Brüche in der Linken zwischen den Generationen, dem linken und rechten Parteiflügel, Sozialdemokraten und Kommunisten. Das gespannte Verhältnis wurde nach der Übertrittswelle der „Februarkommunisten“ zusätzlich schwer belastet. Die Mehrheit der Arbeiterschaft habe sich aus jeglichem gesellschaftspolitischen Engagement zurückgezogen. Belege für Übertritte von rot nach braun, die sich in Interviews mit Zeitgenossen, Flugblättern und Behördenberichten finden und wichtige Ansatzpunkte für zusätzliche Kontextualisierung bilden, stellt der Korrespondent der Historischen Landeskommission für Steiermark und Leiter des Eibiswalder Regionalmuseums Herbert Blatnik vor. Eine der raren konzertierten rot-braunen Aktionen betraflaut Gendarmeriechronik Unterpremstätten die Behinderung italienischer Motorsportler, so genannter „Moperlfaschisten“, dieam 1. Mai bei der Verfassungsfeier in Wien sein und Dollfuß Grüße von Mussolini überbringen sollten, mit ausgestreuten Schuhnägeln. Mit dem Historiker, Germanisten und Lehrer Walter Großhaupt betreten wir auf Basis der Akten des Landesschulrates einen Propagandaraum ersten Ranges, die steirischen Mittelschulen im Schuljahr 1933/34. Das biedere ÖsterreichMarketing des Unterrichtsministeriums („Unser Vaterland heißt Österreich. Wir haben es lieb.“*) und die repressive Kontrolle der Lehrer zeigten sich im Kampf gegen die NS-Propaganda als wenig effektiv. „Wer die Jugend hat, der hat die Zukunft!“, schrieb das Kampfblatt der NSDAP? „Die Jugend ist in den letzten Jahren der Schule und dem Elternhaus entglitten“, resignierte der Landesschulinspektor Dr. Karl Klöchl 1934. Die Schule als politisches Minenfeld hat in der Erinnerungskultur keinen Platz gefunden. Den Fokus des Erinnerns im Ablauf der Zeiten sowie friihere und heutige Erinnerungszeichen an die österreichische Diktatur hält Heimo Halbrainer in seinem Beitrag „Ein Denkmal für die Opfer“ fest. Seine Analyse der Wellen der Erinnerung und ihrer Rituale, die bis heute ein Barometer für die aktuelle politische Ausrichtung sind, geht weit über die Steiermark hinaus. Den pragmatischen Umgang mit der Erinnerung, die auch zum Tauschobjekt werden konnte, belegt er anhand eines Zitats des SPÖ-Vorsitzenden und Vizekanzlers Adolf Scharf, der bei Geheimverhandlungen im Oktober 1948 befand, „die SPÖ habe auch kein Interesse die Ereignisse vom Februar 1934 indem Wahlkampfbesonders zu erörtern, es sei jedoch erforderlich, dass vorher die Forderungen derSPÖ aufW; iedergutmachung erfüllt werden.“ Vorrangige Akteure der Erinnerungspolitik der Gegenwart kommen im Vorspann des Buches zu Wort. Auf Ausgleich und Versöhnung fokussiert der steirische Landeshauptmann Franz Voves. „Wenn wir uns heute an die Zeit des Austrofaschismus erinnern, dann geschieht dies nicht, um die Erinnerung an ein erlittenes Unrecht aufrecht zu erhalten und an nächste Generationen weiterzugeben, sondern es geschicht aus Ehrfurcht vor jenen Menschen, die damals bereit waren für die Demokratie und ihre politische Überzeugung zu kämpfen und sogar zu sterben.“ Die Narben der Wunden von gestern sind blass, aber noch präsent, wenn der steirische AK-Präsident Josef Pesserl auf die großen Errungenschaften der Ersten Republik verweist und die zynischen Schlagworte ihrer Zerstörung — „weg mit dem sozialen Schutt, weg mit der demokratischen Willensbildung“ - ins Gedächtnis ruft. Wie geht es weiter? Neben Erkenntnissen zu Iheorie, Strukturen, Gender, Repression, Widerstand und Opportunismus, Inszenierung, Erinnerung und aktuellen Entwicklungen wurden erneut wichtige Forschungsdesiderata postuliert wie jene von Dieter A. Binder für die Außenpolitik oder von Üte Sonnleitner für empirische regionale Vergleiche als Basis für ein fundiertes, nicht allein auf Wien ausgerichtetes Gesamtbild. Nach drei wichtigen Symposien scheint es jetztan der Zeit, ein Forschungsprogramm mit regionalem und internationalem Fokus zu organisieren und zu finanzieren, um die lange Liste an erkannten Wissensliicken systematisch abzubauen. War es im September 2014 möglich, an der Universität Wien mit iiber 200 ForscherInnen aus 35 Staaten die globale Dimension des Wiener Kongresses zu klären, so sollte dies auch für jene Periode möglich sein, die für den Untergang Österreichs entscheidend war, mit katastrophalen internationalen Folgen. Helene Belndorfer Werner Anzenberger, Heimo Halbrainer (Hg.), Unrecht im Sinne des Rechtsstaates. Die Steiermark im Austrofaschismus. Graz: Clio 2014. 3125. Euro 15,Anmerkungen 1 Die rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Wien veranstaltete gemeinsam mit dem Institut für Zeitgeschichte am 20./21. und 24.-26. Jänner 2011 eine Fachtagung zu Forschungsansätzen und Desideraten in der Erforschung des Regimes Dollfuß/Schuschnigg. Die Ergebnisse wurden in zwei Sammelbänden publiziert: Ilse Reiter-Zatloukal, Christiane Rothländer, Pia Schölnberger (Hg.): Österreich 1933-1938. Interdisziplinäre Annäherungen an das Dollfuß/ Schuschnigg-Regime, Wien u.a. 2012. Lucile Dreidemy, Florian Wenninger (Hg.): Das Dollfuß/Schuschnigg-Regime 1933-1938. Vermessung eines Forschungsfeldes, Wien u.a. 2013. 2 Emmerich Tälos: Das Austrofaschistische Herrschaftssystem. Österreich 1933-1938, Wien 2013. 3 Sie verweist dabei vor allem auf Irene Bandhauer-Schöffmann: Gottgewollte Geschlechterdifferenzen. Entwürfe zur Restrukturierung der Geschlechterdichotomie in der Konstituierungsphase des „Christlichen Ständestaates“. In: Brigitte Lehmann (Hg.): Dass die Frau zur Frau erzogen wird. Frauenpolitik und Ständestaat, Wien 2008, 15-61. 4 OVP-Pressedienst, 12.2.1946. Zitiert nach Elisabeth Klamper: „Ein einig Volk von Brüdern“. Vergessen und Erinnern im Zeichen des Burgfriedens. In: zeitgeschichte 24 (1997), 170185, hier 170. 5 Die verhüllten Büsten repräsentieren Jakob Reumann, Viktor Adler und Ferdinand Hanusch, drei bedeutende Sozialdemokraten, aber nicht wie beschrieben die „drei Gründer der Republik“. 6 Erich Hackl, Evelyn Polt-Heinzl (Hg.): Im Kältefieber. Februargeschichten 1934, Wien 2014, 203-217. 7 Kurt Neumann: Gefangen zwischen zwei Kriegen, Graz 2012. 8 Preisausschreiben in der 1. Nummer der „Oesterreichischen Schule“ vom 10. April 1934. 9 Der Angriff. Kampfblatt der N.S.D.A.D für den Bezirk Graz und Umgebung, 10. Juni 1934. November 2014 73