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Ihre Attraktivität, ihr unkonventioneller Lebensstil und ihre geistige Autorität trugen ihr im Wien der Zwischenkriegszeit den Rufeiner „Femme fatale“ ein. Unter dem Namen ,,Hedda* agiert sie in Franz Werfels Schliisselroman des revolutionaren Wiens „Barbara oder die Frömmigkeit“ als „farbige Frauenerscheinung“ mit „beträchtlicher Bildung und Belesenheit“. Und Robert Musil ließ sie in seiner Posse „Vinzenz und die Freundin bedeutender Männer“ als anarchistische „Alpha“ auftreten, die gegen die männliche Gesellschaftsordnung rebelliert. Ihr wahrer Name: Gina Kaus. Obwohl sie eine der erfolgreichsten deutschsprachigen Schriftstellerinnen der 20er- und 30er-Jahre war, ist sie heute nahezu vergessen. Sie dem Vergessen zu entreißen, dazu könnte die jüngst veröffentlichte Monographie Der produktive Kosmos der Gina Kaus von Veronika Hofeneder dienen. Gegliedert ist das Buch in acht Kapitel samt einer kurzen Einleitung und ausführlichen Bibliographie. Nach einem biographischen Abriss, „der die Entstehungs- und Produktionsbedingungen von Kaus’ Texten ... nachzeichnet“, werden „Kaus’ poetologische Konzeptionen“ präsentiert und untersucht. Dies geschieht, wie Hofeneder ausführt, anhand der thematischen Achsen „Individualpsychologie“, „Pädagogik und Kinderpsychologie“, „Rechtsfragen und Revolutionen“, „Liebe und Ehe“, „Geschlechterrollen und Frauenfrage“. Angestrebt ist eine „Gesamtschau auf das breitgefächerte Schaffen“ von Gina Kaus, die über die Präsentation auch bisher wenig bekannter und unveröffentlichter Texte und Korrespondenzen eingelöst werden soll. Ihrem hohen Anspruch wird Hofeneder mit ihrer Studie vollaufgerecht. Deskriptiv-analytisch und kritisch-engagiert weist die Autorin nach, dass Kaus’ Schaffen literaturästhetisch anspruchsvoll ist, Diskurse um weibliche Kreativität belebt und Kritik an sozialer Ungerechtigkeit formuliert. Gewürdigt wird Kaus von Hofeneder nicht nur als prominente Vertreterin und kritische Analystin der Neuen Frau, als Drehbuchautorin, Ubersetzerin und als sozial und kulturpolitisch engagierte Psychologin und Padagogin, sondern auch als kompetente Fiirsprecherin der Individualpsychologie Alfred Adlers. Auf die Frage, warum Gina Kaus’ Werke so sehr in Vergessenheit gerieten, bietet Hofeneder drei Antworten an. Zum einen meint sie, Kaus' Erika Bezdickoväs schmales Büchlein Mein langes Schweigen kam mit der Post. Noch bevor ich das Vorwort zu Ende gelesen hatte, hatte ich einige Vorurteile gegenüber diesem Buch — oder, um es neutraler auszudrücken, eine klare Vorstellung davon, wie es sein würde, es zu lesen. Ich stellte mir eine Schilderung der wichtigen Ereignisse und Abschnitte aus dem Leben jener Frau vor, deren Name aufdem Cover stand, wobei ich mir nicht sicher war, wie ihr Nachname auszusprechen sei, und die verschiedenen Möglichkeiten vor mich hin murmelte. Genauso wie ich einige Vorurteile hatte (ich stellte mir ein Buch in der Art von Lizzie Doron vor und tatsächlich finde ich, dass man Mein langes Schweigen in einigen Aspekten mit Warum bist du nicht vor dem Krieg gekommen? vergleichen kann), hatte ich auch Erwartungen. Ein Buch, das von einem langen Schweigen berichtet? Oder ein Buch, das dieses lange Schweigen bricht? Die Wahrheit ist, dass Erika Bezdickovä für mich mehr wurde als ein schwieriger Name. Beim Lesen fühlte ich mich, als würden wir zusammen in ihrem Wohnzimmer sitzen, wo sie mir nach der Reihe und aufeine Art und Weise von ihrem Leben erzählte, wie es mein Großvater, dessen Schicksal streckenweise Bezdickoväs ähnelt (um 1930 geboren, nach Auschwitz deportiert...), nie getan hat. Vielleicht war es das, was dieses Buch für mich so besonders gemacht hat, selbst wenn es bei weitem nicht das erste war, das ich zu diesem Thema gelesen hatte. Erika Bezdi&kovä wurde 1931 in Zilina, einer Stadt im Nordwesten der Slowakei, geboren. 74 ZWISCHENWELT Das Buch beginnt mit den Schilderungen ihrer Kindheit, ihrer Familie und damit, wie sich ihr Leben drastisch veränderte. 1939 flüchtete sie vor dem faschistischen Regime in der Slowakei nach Tschechien, erlebte dort die deutsche Besatzung und wurde nach Auschwitz deportiert. Nach dem Krieg kehrte sie in ihre Heimat zurück, wo sie als Journalistin zu arbeiten begann. Mein langes Schweigen ist ein schönes, ein berührendes Buch. Die hin und wieder auffallenden sprachlichen Mängel, abgegriffene Redewendungen und sich wiederholende Sätze erinnerten mich daran, dass es nicht das Ziel dieses Buches ist, hohe Literatur zu sein, sondern schlicht und direkt sehr persönliche Lebenserfahrungen zu schildern. Bei der Lektüre des Buches bekommt man den Eindruckt, dass Erika Bezdickovä sehr religiös ist. Jedenfalls glaubt sie an einen Gott, der sie immer wieder gerettet hat und dem sie dankbar sein muss. Gebete sind ihr wichtig, und zu ihrer toten Mutter (ihrem „Mütterchen“) zu sprechen, gibt ihr Kraft. Diese Religiosität ist besonders in der Szene am Stephansplatz zu spüren, als Bezdickovä den Stephansdom sieht und meint, Gott sei für alle da. Der versöhnliche Ton an dieser Stelle wirkt zugleich passend und gezwungen. Manchmal stört es ein wenig, wie sehr die Autorin das Glück, das sie in ihrem Leben hatte, Gott zuschreibt. Was ebenfalls auffällt, weil es sich ständig wiederholt, ist Bezdickovas Kritik am Sozialismus und Kommunismus. Obwohl viele Menschen aus ihrem Verwandten- und Freundeskreis, „zugegebenermaßen aufregendes“ Leben überschatte ihr Werk; zum anderen glaubt sie, Kaus' Etikettierung als Trivialautorin erweise sich als Rezeptionshindernis. Beide Antworten sind wohl eher als nicht hinreichend einzustufen. Als weit plausibler zeigt sich hingegen ihre dritte Option: Gina Kaus habe nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten und dem erzwungenen Exil den Kontakt zum deutschsprachigen Kulturraum, die Verbindung zur deutschen Muttersprache verloren und das Nachkriegs-Europa sei ihr kulturell fremd geblieben. Umso mehr ist eszu begrüßen, dass Hofeneders Buch eine Lanze für Gina Kaus’ „produktive(n) Kosmos“ bricht und einen willkommenen Anlass bietet, sich Kaus’ sprachlich virtuosen Romanen oder den Perlen ihrer kleinen Prosa zuzuwenden und sie als geistreiche und humorvolle Schriftstellerin wie als feinfühlige Psychologin kennenzulernen. Christiana Puschak Veronika Hofeneder: Der produktive Kosmos der Gina Kaus. Schriftstellerin — Pädagogin — Revolutionärin. Hildesheim: Georg Olms 2013, 331 S. Euro 38,einschließlich ihres Vaters, in der Partei waren, ist für Bezdickovä klar, dass keine Diktatur gut ist, weder eine rechte noch eine linke. Das kommunistische Regime hat Bezdickoväs Leben in der Tschechoslowakei nach dem Krieg häufig erschwert und der Antisemitismus blieb in dieser Zeit noch genauso ein Teil des Alltags wie unter dem faschistischen Regime in der Slowakei. Solange Bezdickovä in ihrer schlicht gehaltenen Sprache berichtet, ist es sehr angenehm, ihren Erzählungen zu folgen, aber sobald sie versucht, mit Metaphern oder einer komplizierten Ausdrucksweise etwas zu umschreiben, wirkt der Text hölzern, was vielleicht an der Übersetzung liegen mag. An manchen Sätzen nimmt man auch inhaltlich Anstoß, zum Beispiel, wenn jemand als „psychisch gestört“ bezeichnet wird. Beeindruckend ist, wie Bezdickovä sich an sämtliche Vor- und Nachnamen der im Buch vorkommenden Menschen erinnert, selbst wenn diese nur eine kleine Rolle in ihrem Leben gespielt haben. Die Passagen, in der denen die Autorin ihre Zeit in Auschwitz beschreibt, waren für mich am uninteressantesten und unpersönlichsten, es schien mir, als ob Bezdickovä ihre Distanz zu jenem grauenvollen Abschnitt ihrer Vergangenheit nicht vollständig überwinden konnte, und deshalb klingen die Kapitel darüber so ähnlich wie alles andere, was man schon oft über dieses Thema gelesen hat. Am schönsten fand ich die Schilderung der China-Riese, die Bezdickova im Rahmen ihres Berufs als Journalistin macht. In China besucht sie eine Schule, in der die Schülerinnen und Schüler