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sie für einen Filmstar halten, weil siezuvor einen Film mit einer weißen Hauptdarstellerin gesehen haben, und Bezdickovä meint, dass für chinesische Kinder alle weißen Menschen gleich aussehen müssen, so wie für diese asiatische Menschen einander ähneln. Bezdickovä besucht auch Israel und die Begeisterung, die sie bei ihren Fahrten durch das „Gelobte Land“ verspürt, ist für mich etwas irritierend, da ich mich nicht mit dem Zionismus identifizieren kann. Obwohl das Buch sehr dünn ist (127 Seiten), haben eine lange und dicht geschilderte Geschichte sowie ein Vorwort, ein Nachwort, eine Kurzbiografie der Autorin, eine Bildbeilage und Emil und Karl Im Jahr 1940 erschien im New Yorker Verlag Moyhe Shmuel Sklarskis das aufJiddisch verfasste Kinder- und Jugendbuch Emil und Karl, das nun in einer deutschen Übersetzung im Verlag Die Andere Bibliothek herausgegeben wurde. Verfasser war Yankev Glatshteyn, ein aus Lublin stammender jüdischer Autor, der seit 1914 in New York lebt und publiziert. Erzählt wird die Geschichte zweier Freunde im Wien des Jahres 1938. „Wien ist jetzt eine ganz andere Stadt“ Gleich zu Beginn des Buches blickt der Leser auf eine Szene, die den vorhergegangenen Zeitenbruch, deutlich vor Augen führt: Karl saß wie versteinert aufeinem Hocker. In der Wohnung war es totenstill. Er betrachtete die auf dem Boden verstreuten Scherben der zerbrochenen Vase. Mehrmals streckte er die Hand aus, um den umgekippten Stuhl neben ihm wieder aufzustellen. Der Stuhlsah aus wie ein Mensch, der aufs Gesicht gefallen ist und nicht aufstehen kann. Doch jedes Mal, wenn er mit der Hand nach dem Stuhl griff hob er ihn nur wenig an und ließ ihn dann gleich wieder fallen. Karl ist allein, Uniformierte haben seine Mutter abgeholt. In der menschenleeren Wohnung zeugen die Dinge von der Abwesenheit der Mutter: Scherben der Vase erinnern an den gerade stattgefundenen Kampf, die ordentlich abgestellten Pantoffel und der nach Lavendel duftende Morgenmantel der Mutter gemahnen an eine Ordnung, die nicht mehr in Kraft ist. In diesem anderen Wien ist Karl Waise, denn sein Vater ist bereits 1934 bei den Februaraufständen ums Leben gekommen. Verbunden wird die Geschichte Karls mit der seines jüdischen Freundes Emil: Auch er ist allein, sein Vater wurde ermordet, seine Mutter musste in eine Klinik gebracht werden. Es sind Karls Zuversicht und sein kindliches Vertrauen, die die beiden aufsich gestellten Buben immer wieder auf helfende Menschen treffen lassen. Ist es zuerst das Hausmeister-Ehepaar Josef und Berta, das die beiden Kinder aufnimmt und versorgt, landen sie schließlich bei Mathilde und Hans, die sie in ihr Haus außerhalb Wiens bringen. Der rothaarige Hans macht den beiden Buben Angst, er lacht unkontrolliert und schreit hilfreiche Begriffserklärungen darin Platz. Ich las Mein langes Schweigen auf mehreren kurzen Zugstrecken und war das Mädchen im Zug, das liest und weint. Während ich diese Rezension schrieb, war ich bei meinen Großeltern in Israel zu Besuch. Eine Freundin meines Großvaters hatte ihm ein Paket mit einem Buch geschickt, das sie über ihr Leben geschrieben hatte. Das ließ mich an Mein langes Schweigen denken. Meine Großmutter fragte meinen Großvater, der gar nicht mehr zu lesen aufhören konnte, wie er das Buch finde und warum er selbst nie ein Buch über sein Leben schreiben wollte. Die Freundin übertreibe viel, immer wieder „Heil!“, doch Mathilde kümmert sich mütterlich um die beiden und gibt ihnen ein Gefühl der Geborgenheit. Blitzlichter aus einer anderen Welt Nach und nach erkennen Emil und Karl, dass Hans zwei Gesichter hat: Untertags mimt er den nicht Nicht-Zurechnungsfähigen, während er die Nächte mit dem Verfassen von Briefen und Flugzetteln verbringt. Nachdem Mathilde und Hans die Kinder darüber aufgeklärt haben, dass sie beide im Widerstand tätig sind, dürfen Emil und Karl einem der Untergrundtreffen in Mathildes Haus beiwohnen, wo Informationen über die Aktivitäten und Pläne der Nazis ausgetauscht werden: Dann berichtete jemand von einem Konzentrationslager. Er erzählte, wie man dort Menschen zu Tode folterte. Er nannte die Namen von Genossen, die dort umgekommen waren und für die er Gräber ausgehoben hatte. Viele seien wie die Fliegen durch verseuchtes Wasser gestorben. Zwar hätte es aufdem Hof des Konzentrationslagers auch einen Brunnen mit Trinkwasser gegeben, aber das sei nur für die Wächter gewesen. Er sprach lange mit ruhiger Stimme, bis er plötzlich zusammenbrach. Als Hans am Tag nach der nächtlichen Sitzung verhaftet wird, erkennt Mathilde, dass die Kinder bei ihr nicht mehr sicher sind. Sie beschließt, Emil und Karl in die Obhut einer Hilfsorganisation zu geben, die die Auswanderung von Kindern abwickelt. In den Text sind Blitzlichter auf das Geschehen im Wien des Jahres 1938 eingewoben. Diese Informationen gelangen aus Europa in die USA und zirkulieren in Form dieses Textes weiter: So kommen Emil und Karl bei ihren Streifzügen an zerstörten jüdischen Geschäften vorbei, siewerden aufgegriffen und gezwungen Pflastersteine zu schrubben, von Mitgliedern der Widerstandsgruppe erfahren sie von den Lebensbedingungen in den Lagern. Einzelne Passagen im Buch erzählen die Vorgeschichte der Ereignissen, die allmähliche Beseitigung jeglicher Normalität für die jüdische Bevölkerung Wiens. Ort dieser schleichenden Veränderung ist der Schulhof, wo dem Juden Emil seine Ausgrenzung immer mehr bewusst wird. fand mein Großvater, und er selbst hätte nicht die Geduld, um so ein Buch zu schreiben. Manche Holocaust-Überlebende können ihr langes Schweigen eben nicht brechen, und deshalb finde ich, dass Erika Bezdi¢kova etwas sehr Schönes und Bedeutendes mit ihrem Buch geschaffen hat. Maya Rinderer Erika Bezditkovd: Mein langes Schweigen. Aus dem Tschechischen von Pavla Vinovd, Vorwort von Olga Sommerovd und Nachwort von Rainer KönigHollerwöger. Wien: Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft 2013. 127 S. Euro 12,Poetologische Verfahren Wie Evita Wiecki in ihrem Nachwort betont, trägt der Text Yankev Glatshteyns ganz klar die Signatur seiner Zeit und des Ortes, an dem er verfasst wurde. Im New York der 1940er Jahre waren es gerade jiddischsprachige Kreise mitihrem weltweiten Presse- und Verlagswesen, die über die Lage der jüdischen Bevölkerung in Europa informiert waren. Gleichzeitig ist nicht zu überschen, dass sich der’Iextan Kinder und Jugendliche wendet. Dies wird nicht nur durch die Wahl der Protagonisten und deren Perspektive auf die sie umgebende Welt deutlich, sondern spiegelt sich auch aufanderen Textebenen wieder. So spielt das Phantastische, das Magische und Märchenhafte eine wichtige Rolle in Karls und Emils Welt. In den Gewaltszenen auf der Wiener Straße werden Menschen zu Tieren, sie klettern auf Baume und geben nur mehr Tierlaute von sich. Züge und Busse hingegen flüstern, schnaufen oder zischen wie Menschen. Die Jiddistin Evita Wiecki zeigt wichtige intertextuelle Verbindungen auf: Der Titel und die Wahl zweier Kinder, die aufsich gestellt sind und alleine durch die Stadt streifen, kann als Verweis auf Erich Kästners Emil und die Detektive gelesen werden. Gleichzeitig schreibt sich Glatshteyn in die Pogrom-Literatur ein, wie die an Lamed Shapiros Der Kuss erinnernde Anfangsszene verdeutlicht. Das Mittel der Zeitstauung ist hier zentrales Charakteristikum der Darstellung einer im wahrsten Sinne des Wortes „verrückten Zeit“. „Gute Menschen kann man erkennen, aber schlechte Menschen sehen sich alle ähnlich.“ Der Unerkennbarkeit der Stadt Wien, in der sich Emil und Karl immer wieder verirren, sowie der Monstrosität von Menschenmassen, stellt der Erzähler die Erkennbarkeit und Würde des Einzelnen gegenüber. Immer wieder sind es Frauen, die die Kinder vor Unheil bewahren: die Nachbarin, Frau Gutenglas, Berta, die Hausmeisterin und Mathilde, die Widerstandskämpferin. Als Mathilde die beiden Buben in die Obhut der Hilfsorganisation übergibt, verabschiedet sie sich mit den Worten: „Aber wo immer ihr auch seid, eines Tages werdet ihr die gute Nachricht November 2014. 75