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hören, dass Wien wieder Wien und Berlin wieder Berlin ist und Menschen wieder wie Menschen leben können.“, und steckt ihnen einen Nachricht von dem zum Tode verurteilten Hans zu: „Ich sterbe, damit Emil und Karl in Eintracht leben können.“ In jenem Moment, als die beiden Freunde im Tumult auf dem Bahnhof getrennt werden, ist Karl klar, dass er Wien nun für immer den Rücken zukehrt: „Seine Mutter hatte in Wien gelebt, sein Vater hatte in Wien gelebt, aber er selbst würde nicht mehr in Wien leben. Er musste aus der Stadt fliehen.“ Aufdem Bahnsteig, auf den Zug wartend, sieht Karl sein Leben in Trümmern liegen: Vor seinen Augen brach seine ganze bisherige Welt zusammen. Das Bild des Vaters fiel von der Wand, die Wände stürzten ein, das ganze Haus, Emils Haus, alle Häuser Wiens stürzten ein. Die Menschen wurden von den Trümmern begraben, die überall herabfielen, sogar von den Dächern. Nur die wenigen Kinder und Erwachsenen, die auf dem Bahnsteig standen und auf den Zug warteten, wurden gerettet. Yankev Glatshteyn schreibt 1940 ein Buch über die Macht der Freundschaft. Aus vielen Seiten dieses Buches sprechen die Zuversicht und der Glaube an das Gute im Menschen. Gleichzeitig verdeutlicht das apokalyptische Bild eines zerstörten Wiens am Schluss des Buches, dass Europa auf eine unvorstellbare Katastrophe zusteuert. Emil und Karl kann heute in einer deutschen Übersetzung gelesen werden und schärft unseren Blick für den unmittelbaren Entstehungskontext jener Texte, die mit dem Label Holocaust-Literatur versehen wurden. Marianne Windsperger Yankev Glatshteyn: Emil und Karl. Aus dem Jiddischen von Niki Graga und Esther Alexander-Ihme. Mit einem Nachwort von Evita Wiecki. Berlin: Die Andere Bibliothek 2014. 151 S. Euro 18,50 Benjamin Murmelstein (1905 — 1989) war der einzige Judenälteste, der zur Zeit des EichmannProzesses in den sechziger Jahren in Jerusalem noch am Leben war. Gegen seinen eigenen Wunsch wurde er jedoch nicht als Zeuge gerufen. Bis zu seinem Tod lebte er als Möbelhändler und Privatgelehrter in Rom; manchmal wurde er interviewt von österreichischen Historikern und Journalisten wie Pierre Genee und Erika Wantoch. Claude Lanzmann interviewte Murmelstein 1975 elf Stunden lang, asssitiert von seiner damaligen Frau, der Schriftstellerin Angelika Schrobsdorff, beniitzte den Mitschnitt aber nicht fiir seinen Film Shoah. 2006 übergab Lanzmann alle Outtakes für Shoah dem United States Holocaust Memorial Museum. 2007 wurde das Material vom Wiener Wiesenthal Institut in Kooperation mit dem Österreichischen Filmmuseum unter dem Titel „Benjamin Murmelstein. Der letzte der Ungerechten“ gezeigt. Claude Lanzmann, der anwesend war, beschloss damals, daraus doch einen Film zu machen. In der beeindruckenden vierstündigen Dokumentation, die 2013 in Cannes und bei der Viennale in Wien vorgestellt wurde, widerfährt Murmelstein vollends Gerechtigkeit. Murmelstein absolvierte die Israelitisch-theologische Lehranstalt in Wien und wurde 1932 Rabbiner des Klucky-Tempels in der Brigittenau und Gemeinderabbiner. Obwohl er sich 1936 für das Rabbinat in Zürich bewarb und 1938 nach Schweden und Großbritannien auszuwandern versuchte, verblieb er als einziger Rabbiner in Wien. Er wurde Leiter der Auswanderungsabteilung und war in dieser Funktion weitgehend für die Auswanderung von rund 128.000 österreichischen Juden und Jüdinnen verantwortlich. Aber Murmelstein war ein Choleriker; Rosa Rachel Schwarz und Willy Stern, seine Mitarbeiter, erinnerten sich, dass er „kleinlich, pedantisch und in keiner Weise Menschen gegenüber hilfsbereit“ war: „.... er war grob [...] er ist unangenehm gewesen.“ Unter den dramatischen Umständen der Zeit musste ihn dies besonders unbeliebt machen. Am Jom Kippur 1942 fühlte er sich so unwürdig und beschmutzt, dass er den Gottesdienst vorzeitig verließ. Die später immer wieder gegen ihn erhobenen Vorwürfe, dass er als für die Zusammenstellung der Iransportlisten verantwortlich gewesen sei, erwiesen sich jedoch als haltlos. Eine Anklage vor dem Volksgerichtshof in Leitmeritz wurde 1946 zurückgezogen. Der Sammelband „Der letzte der Ungerechten“, der auf den Beiträgen einer Tagung 2010 in Frankfurtam Main basiert, publiziert erstmals Auszüge aus Lanzmanns Interview mit Murmelstein, das auch als PDF online verfügbar ist. Neben historischen Beiträgen und dem Nachdruck der von Murmelstein 1963 in der „Neuen Zürcher Zeitung“ publizierten „Stellungnahme eines Beteiligten“ über Iheresienstadt enthält der Band auch einige cinematographische Beiträge. Neben Analysen des NS-Propagandafılms über Theresienstadt widmet sich Hanno Loewy dem 1962 in Theresienstadt gedrehten Spielfilm „Transport aus dem Paradies“ in seinem Kontext. Die deutsche Historikerin Lisa Hauff hat in ihrer von Hajo Funke in Berlin betreuten Dissertation Murmelsteins vierjährige Tätigkeit in der NS-Zeit in Wien, beginnend mit einem umfassenden Bericht über die internationale Forschung zum Die ersten zwei des aus fünf knappen Sätzen bestehenden Nachworts lauten: „Dieses Buch soll ein Dank an die lebenden und toten Bewohner der drei Oberwarter Roma-Siedlungen sein — ein Dankeschön, das sie sich verdient haben. Durch dieses Buch sollen sie für immer in unserer Erinnerung bleiben.“ — Das ist der einzige Moment, in dem man von einem Anflug 76 ZWISCHENWELT von Pathos sprechen könnte, der diesem Buch ansonsten fremd ist. Obwohl kaum eines so viel Recht hätte, mit Ergriffenheit zu erzählen. Ist der Autor doch einer, der die Geschichte auch aus dem Zentrum des persönlichen Erlebens erzählt. Aber hat man das durch (qualitativ magere) Fotos der Siedlungen und vieler beschriebener Personen aufgelockerte knapp 150 Seiten starke "Thema Judenräte, einer sorgfältigen und klugen Analyse unterzogen. Sie hat dafür erstmals auch die erst seit einigen Jahren zugängliche Sammlung Josef Löwenherz im Leo Baeck Institut in New York ausgewertet. Die von Hauff und bei Murmelstein genannte unveröffentlichte umfangreiche Untersuchung von Leonhard H. und Edith Ehrlich ,Choices under Duress ofthe Holocaust. Vienna 1938-1945“ wird im nächsten Jahr in den USA erscheinen. Benjamin Murmelsteins italienischer Bericht erschien 2013 in einer Neuauflage, mit einem Nachwort des Sohnes Wolf Murmelstein. Nun wurdeervon Karin Fleischanderl übersetzt und von Ruth Pleyer und Alfred J. Nollendlich auch auf Deutsch herausgegeben. An einer Stelle schrieb Murmelstein über seine Machtlosigkeit während der späten Deportationen 1944: „Völlig unmöglich war es, einen Aufschub für jene Personen zu erwirken, die von Sonderbefehlen betroffen waren. Hohe Offiziere, Würdenträger der liquidierten Gemeinden, politisch in Ungnade gefallene Personen und fast der ganze Altestenrat.“ EA. Ronny Loewy, Katharina Rauschenbach (Ag.): „Der letzte der Ungerechten“. Der „Judenälteste“ Benjamin Murmelstein in Filmen 1942-1975. Frankfurt/M.: Campus 2011. 208 S. Euro 25,60 Lisa Hauff: Zur politischen Rolle von Judenräten. Benjamin Murmelstein in Wien 1938-1942. Göttingen: Wallstein 2014. 335 S., Euro 35,90 Benjamin Murmelstein: Theresienstadt. Eichmanns Vorzeige-Ghetto. Mit einem Nachwort von Wolf Murmelstein. Hg. von Ruth Pleyer und Alfred J. Noll. Wien: Czernin 2014. 318 S. Euro 24,90 Taschenbüchlein fertiggelesen, möchte man beeindruckt ausrufen: Großartig! Was für ein Buch! Und hat nicht den geringsten Zweifel, dass dieses „Dankeschön“ berechtigt ist gerade auch beispielsweise an den „Schlawiner“ Kalitsch, der „gerne ins Wirtshaus ging“ und dabei eine Menge Geld verlor. Oder an Luisa, „die uns (Kindern) nie das Gefühl gab, willkommen zu