OCR
Kultur sei nach Herbert Marcuse mehr als „eine bloße Ideologie“, sei „im Hinblick auf die erklärten Ziele der abendländischen Kultur“ ein Prozess der Humanisierung, „charakterisiert durch die kollektive Anstrengung, das menschliche Leben zu erhalten, den Kampf ums Dasein zu befrieden oder ihn in kontrollierbaren Grenzen zu halten, eine produktive Organisation der Gesellschaft zu festigen, die geistigen Fähigkeiten der Menschen zu entwickeln und Aggressionen, Gewalt und Elend zu verringern...“' Jene Intellektuelle, welche den Geist der ArbeiterInnenkultur prägten, versuchten diesen Prozess der Humanisierung für die ArbeiterInnen zu verwirklichen. 80 Jahre nach dem Februar 1934 und 81 Jahre nach der Machtergreifung der Nazis in Deutschland hatte sich die Theodor Kramer Gesellschaft als Ziel gesetzt, konsequent diese Intellektuellen, welche fast alle Nüchten mussten oder ermordet wurden, in Erinnerung zu rufen. Neben der Omnipräsenz Theodor Kramers, der zu diesen gehört hat, werden seit 2012 dank Brigitte Lehmann regelmäßig in der ZW seine GenossInnen der Vereinigung Sozialistischer Schriftsteller porträtiert: darunter Thekla Merwin, Else Feldmann, Anton Pariser, Adolf Unger, Margarete Petrides, Heinrich Steinitz, Lili Körber, Fritz Brügel, Adele Jelinek, Richard Wagner, Hedwig Rossi, Schiller Marmorck, Jura Soyfer, Friedrich Hillegeist. Neben diesen Porträts wird auch Literatur von ihnen, welche oft seit Februar 1934 nicht mehr erschienen war, präsentiert. Neben dem Publizieren von und zu den angeführten SchriftstellerInnen wurde schon 2013 ins Auge gefasst, der ArbeiterInnenkultur eine Tagung zu widmen und der Frage nachzugehen, wie Konstantin Kaiser sie im call for papers zum Projekt gestellt hat: „Ob Faschismus und Nationalsozialismus nicht unerheblich zur Zerstörung der Arbeiterkultur beigetragen haben durch Umfunktionierung und Enteignung, durch Ermordung und Vertreibung der führenden Köpfe, durch Demütigung und Verführung der einst aufrecht Strebenden, durch den Terror gegen alle Intellektualität, die kritisch zu unterscheiden suchte.“ 28 Vortragende fanden sich schließlich am 14. und am 15.11.2014 im großen Saal der Volkshochschule Brigittenau, welche uns beim Abhalten der Tagung tatkräftig unterstützte, ein. Viele ReferentInnen kamen aus Deutschland, dank ihrer Vorträge konnten Vergleiche gezogen werden zwischen der dortigen Entwicklung ab 1933 und jener in Österreich ab 1934. So fand in Breslau oder Köpenick die linke, humanistische ArbeiterInnenkultur 5. Mai 2015, 19h Erstes Wiener Lesetheater ein genauso brutales Ende, wie ein Jahr später in der Steiermark oder in Wien. Doch auch im antifaschistischen Kampf, ob vor der Machtergreifung der Nazis, im Widerstand oder im Exil, gab es viele Parallelen. Bei der Tagung wurden weiters viele, ob bekannte, unbekannte, vergessene VertreterInnen und EistreiterInnen der ArbeiterInnenkultur vorgestellt, so Adelheid Popp, Hedda Wagner, Rudolf Goldscheid, Hugo Breitner, Fritz Rosenfeld, Josef Luitpold Stern, Richard Wagner, Franz Rauscher, aber auch Johann Ferch, der die Seiten gewechselt hat. Eingangs sprach Harald Troch über Herbert Exenberger, ohne dessen Lebenswerk sicher vieles nicht möglich gewesen wäre. Man erfuhr einiges über die Arbeiterlnnen-Gesangskultur und über David Josef Bach und seine Arbeitersymphonie-Konzerte. Im Anschluss dazu fand dann auch ein gemeinsam mit dem VÖGB organisiertes Konzert unter der Leitung des Dirigenten Alexander Znamenskiy mit den jungen MusikerInnen der „Die Wiener Polyphoniker“ statt, bei dem u.a. Anton Webern gespielt wurde. Mit Vera Freud war aus Kanada eine Zeitzeugin angereist, die einen sehr persönlichen Bericht über ihre Kindheitsfreundin Doris Loebl im Pariser Exil vortrug, der zur Gänze in der aktuellen ZW nachzulesen ist. Mit Vera Freud am Podium saßen Jürgen Doll aus Paris, Andrea Neugebauer aus Frankfurt und Konstantin Kaiser. Neben diesem Podium, dessen Mitveranstalter die Wiener Vorlesungen waren, gab es noch sieben weitere. Am Ende des schr dichten Programms diskutierten Barbara Blaha, Ulf Birbaumer, Lisa Sinowatz und Heinz Kienzl darüber, was ihnen in der Gegenwart Arbeiterlnnenkultur bedeutet. Nicht nur das Institut für Gewerkschafts- und AK-Geschichte der AK, der VÖGB, die VHS Brigittenau, die Stadt Wien, der Bezirk Brigittenau, die Freiheitskämpfer Brigittenau, der Zukunftsund der Nationalfonds unterstützten die Tagung, sondern auch MEP Josef Weidenholzer und BM Gabriele Heinisch-Hosek, unter deren Ehrenschutz die Veranstaltung stand. In den zwei Tagen waren insgesamt sicher 200 bis 300 interessierte Menschen erschienen, um den Ausführungen zu folgen. Ende 2015 soll ein Sammelband zur Tagung erscheinen. A.E. 1 Herbert Marcuse: Bemerkungen zu einer Neubestimmung der Kultur II. In Herbert Marcuse: Kultur und Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1968. 148 Lili Grün und Ernst Spitz, ein Liebespaar aus Wien Texte und Chansons Bezirksamt Wien 15., Festsaal Rosinagasse 8 (für RollstuhlfahrerInnen: Gasgasse 8) 1150 Wien Eintritt frei Joan Brodovsky Mein Mann Bruno Schwebel Ansprache beim „Abend für Bruno Schwebel“ am 21. Jänner 2015 im Literaturhaus Wien, veranstaltet von der Österreichischen Exilbibliothek in Kooperation mit dem Bundesinstitut für Erwachsenenbildung. Bei der Veranstaltung, die unter dem Ehrenschutz der Mexikanischen Botschaft in Österreich stand, sprachen Ursula Seeber und Christian Kloyber. Paloma Obispo Yeta las aus Schwebels Werk, und ein Ausschnitt aus Hubert Canavals Film „In der Fremde zu Haus“ wurde gezeigt. Viele von Ihnen haben Bruno persönlich gekannt. Sie kennen seine Bilder und seine Erzählungen. Sie kennen seine Lebensgeschichte. Ich aber möchte Ihnen von einem anderen Bruno erzählen, meinem Ehemann. Bruno und ich waren doch sehr unterschiedlich. Er war Ingenieur, arbeitete für einen TV-Sender und beschäftigte sich mit Elektronik. Ich weiß zwar, was eine Funkwelle ist, aber davon, wie sie funktioniert, verstehe ich nichts. Ich bin Chemikerin und betätigte mich für die Pharmaindustrie. Bruno verstand von Molekülen oder Medizinwissenschaften nichts. Irgendwie arbeiteten wir zusammen. Wir teilten uns den Haushalt. Das war in Mexiko ganz einfach, weil wir eine Haushälterin hatten, die für uns putzte und kochte. Darum kümmerte ich mich um das Finanzielle und Bruno seinerseits war für das Autofahren zuständig. So haben wir uns die Arbeit halbiert. Das Wichtigste im Leben für Bruno war Spaß zu haben, und erst danach kam für ihn die Arbeit. Im Gegensatz dazu war meine erste Sorge die Arbeit und dann, wenn diese getan war, konnte ich mir den Spaß erlauben. Das ging 30 Jahre so. Ich stand immer zeitig auf, war zwischen acht und neun auf meinem Arbeitsplatz und kam so um sieben Uhr abends zurück nach Hause. Bruno stand kurz vor neun Uhr auf, war so gegen zehn in seiner Arbeit, kam um 14 Uhr zum Essen und etwas nach 19 Uhr noch einmal nach Hause. Zwei Mal in der Woche war er am Abend Schachspielen, während ich am Abend oft arbeitete. Am Wochenende spielte er Tennis und ich war am Wochenende oft im Büro. Und wenn Bruno sonst nichts zu tun hatte, schrieb er, malte oder ging zu Theaterproben. Bruno sagte: „Lass uns Ferien machen, vamos a Veracruz.“ Oder: „Ich muss nach Yucatän, fahr doch mit und wir bleiben über das Wochenende in Akumal.“ Zuerst beklagte ich mich immer: „Bruno! Ich habe ZU VIEL ARBEIT. Ich kann NICHT!“ Und dann, natürlich, fuhr ich doch mit. Wegen Bruno lernte ich schnorcheln, in der Wildnis wandern und Blutwurst und Semmelknödel essen — aber kein Beuschel! Und ich konnte IHN begeistern für meine Interessen: Als ich mich für Kammermusik begeisterte, war Bruno sofort dabei. Brunos Geschichte, der aus Österreich füchten musste, faszinierte mich. 1981 kamen wir nach Österreich, und wir suchten die Lebensorte seiner Familie auf. Vor allem aber den Haaghof in Neulengbach, wo Bruno die gliicklichsten Jahre seiner Kindheit verbracht hatte. Er zeigte mir auch das Haus in Purkersdorf, das er mit seiner Mutter im Winter 1938 spat in der Nacht verlassen musste. Und er führte mich zu dem Gemeindebau in der Brigittenau, wo er seine ersten sechs Jahre verlebt hatte. Wenn er nach Österreich reiste, musste er jedes Mal den Haaghof in Neulengbach besuchen. Doch damals versuchte er nie, mit den Menschen dort in Kontakt zu kommen. Und in Mexiko wollte er mit den Österreichern, die dort lebten, nichts zu tun haben. 1990 klopfte Christian Kloyber an unsere Tür und befragte Bruno nach seinen Erinnerungen. Später kam Alisa Douer, um Fotos für das Buch „Wie weit ist Wien?“ zu machen. 1995 lud Ursula Seeber Bruno ein, hier im Literaturhaus aus seinen Kurzgeschichten zu lesen. Diese Reise brachte Bruno Wien wieder näher. Im Jahr 2000 reisten wir im Urlaub dann wieder nach Wien, und Bruno selbst suchte nun die Kontakte. Konstantin Kaiser war an seinen literarischen Texten interessiert. Hubert Canaval plante einen Dokumentarfilm über das Exil in Mexiko. Helga Winkler wollte, dass Bruno über einen Umzug nach Wien nachdachte. Auch 2002 verbrachten wir wunderbare Monate in Wien. Bruno war eingeladen worden, an einer Gedenkveranstaltung teilzunehmen, die an den Protest Mexikos gegen den „Anschluss 1938“ erinnerte. Österreich und Mexiko ehrten so Bruno. Es gab Einladungen für Lesungen und Radio- und Fernschinterviews. Und diesmal nahm er sich die Zeit, seine Geburtsstadt kennenzulernen. Und er traf sich auch — endlich — mit der Familie Héssinger, den Verwandten seiner Mutter. 2004 kam er nach Wien, als Hubert Canaval am Film ,,In der Fremde zu Haus“ arbeitete. Er brachte seine Bilder mit, die er 2004 und 2005 ausstellte. 2009 wurde er vom Neulengbacher Historischen Verein eingeladen, um dort ihn und die Familie Schwebel zu ehren. In diesem Jahrhundert, dem 21. Jahrhundert, und dank der vielen Menschen - die hier heute Abend anwesend sind — konnte Bruno Frieden schließen mit seiner eigenen Geschichte und seiner verlorenen Heimat. Es wurde ihm bewusst, dass er auf beiden Ufern des Atlantischen Ozeans zu Hause war. Er gab seine abwehrende Haltung auf und verlor seinen so lange gepflegten Zynismus. Nach Brunos Tod beschloss ich, dass seine Dokumente hierher gehörten, und begann sie zu ordnen. Ich erzähle Ihnen, was ich entdeckte. April 2015 5