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die Fortsetzung einer ganzen Reihe von Terroranschlägen gegen Juden, die Frankreich in den letzten Jahren erschüttert haben, und eine Dimension des Verbrechens, die in den letzten Tagen fast ein wenig in den Hintergrund geraten ist: die Tatsache, dass es sich bei islamistischem Terror nicht nur um ideologisch und religiös motivierte Verbrechen, sondern zu einem wesentlichen Teil um Hass auf Juden (nein, nicht nur Hass auf Israel oder israelische Juden, sondern auf ALLE Juden) handelt. Der Islamismus ist eine faschistische Ideologie bzw. eine postmoderne Variante des Faschismus. Islamisten, aber auch viele konservative Moslems, die Terrorismus ablehnen, glauben nicht nur, dass ihr Prophet Mohammed genauso ein verklemmter, beschränkter und humorloser Dogmatiker gewesen sei wie sie selbst (weswegen sie Karikaturen, die ihn angeblich beleidigen, „rächen“ oder zumindest für ihn oder in seinem Namen verletzt und empört sein müssen, ohne dabei jemals auf die Idee zu kommen, dass ein echter Prophet — genauso wie ein wirklich gläubiger Mensch — über solchen Dingen stehen müsste), sondern sehen Juden bzw. Menschen jüdischer Herkunft als ihre primären Feinde an, die vernichtet werden müssen (es sei denn, diese konvertieren selbst zum radikalen Islam, was bekanntermaßen nur sehr selten der Fall ist). Die Autorin Sigolene Vinson, die am 7. Jänner an der Redaktionssitzung von „Charlie Hebdo“ teilgenommen hatte, erklärte nach den Morden, deren Zeugin sie gewesen war, einer der Kouachi-Brüder habe ihr gesagt, sie solle keine Angst haben, Frauen würden nicht erschossen werden. Trotzdem töteten die islamistischen Verbrecher neben ihren männlichen Opfern auch eine Frau: die Psychoanalytikerin Elsa Cayat. Sie war Jüdin. Frau Cayat hat populäre Bücher zum Ihema Sexualität veröffentlicht. Für „Charlie Hebdo“ schrieb sie eine Beratungskolumne. In den Monaten vor dem Anschlag hatte sie anonyme Anrufe erhalten, in denen sie als „dreckige Jüdin“ beschimpft und mit dem Tod bedroht wurde. Bei Jüdinnen zählte für die Kouachi-Brüder der „Frauenbonus“ offenbar nicht. Und Amedy Coulibaly war es wahrscheinlich egal, dass er eine Frau tötete, als er eine Polizistin erschoss. Die Weltbevölkerung beträgt 7238 Millionen Menschen (Stand 2014). Von diesen sind ungefähr 15 Millionen Juden. Das sind etwa 0,2 Prozent. Wahrscheinlich gibt es hundertmal so viele Antisemiten bzw. Menschen, die zumindest Vorurteile oder vorgefasste Meinungen Juden gegenüber haben, als Menschen jüdischen Gerhard Oberschlick Glaubens oder jüdischer Herkunft. Auf jeden einzelnen Juden kommen demzufolge Dutzende von Antisemiten — sehr viele, wenn auch sicher nicht die überwiegende Zahl von ihnen sind Moslems. Für mich als Juden ist das keine statistische Spielerei, sondern die durchaus individuell spürbare, real erfahrbare oder potenzielle Realität der Welt, in der ich lebe. Zur „potenziellen Realität“: Wenn ich in Gaza-Stadt, im Südlibanon oder in Kabul in der Öffentlichkeit verkünden würde, ich sei Jude, wie groß wäre wohl die Wahrscheinlichkeit, dass ich innerhalb der nächsten zehn Minuten sterben würde? Wenn ich dasselbe in Kairo, Riad oder Jakarta tun würde, wie groß wäre die Wahrscheinlichkeit, dass man mich innerhalb der nächsten zehn Minuten beschimpft, bedroht, bespuckt oder verprügelt? Ich möchte hier nicht all die „realen Erfahrungen“ aufzählen, die ich in meinem Leben schon mit Antisemiten gemacht habe oder gar meine Eltern, Großeltern und andere Verwandte gemacht haben, und auch nicht von den schlicht unbedachten und unsensiblen Äußerungen sprechen, die ich von Menschen zu hören bekam, von denen ich solche Aussagen am wenigsten erwartet hätte. Ich möchte auch nicht im Detail darauf eingehen, was ich in Büchern, in Artikeln oder im Internet oft zu lesen oder zu hören bekomme. Manchmal verdränge ich das alles und werde doch immer wieder schmerzvoll daran erinnert. Die Erkenntnis, von so vielen Menschen, die mich gar nicht kennen, gehasst oder verachtet zu werden, und dies allein aufgrund meiner Herkunft, macht mich manchesmal bitter, lässt mich abgeklärt oder resignativ erscheinen. Ich weiß allerdings, dass Resignation der falsche Weg ist. Sie ist nicht einmal ein Ausweg. Vielmehr bestärkt mich die europäische Reaktion aufdie Terroranschläge darin, meinen Weg als Schriftsteller weiterzugehen und dabei mit einem „Mut zur subversiven Naivität“ zu hoffen, mit meinen Büchern und Artikeln, Lesungen, Schreibwerkstätten und Interviews sowie durch meine anderen Tätigkeiten oder schlichtweg durch meine Haltung, um die ich mich stets und immer wieder von Neuem bemühen muss (denn auch ich bin nicht frei von Angst, Wut und vorgefassten Meinungen), dazu beizutragen, dass die Welt zumindest ein ganz klein wenig besser wird. Dies mag überheblich klingen, eine Selbstüberschätzung oder eine kindisch anmutende Illusion sein, doch stehe ich dazu, dass dies meine Ideologie und meine Form des Fundamentalismus ist, und verkünde deshalb wie Millionen andere in diesen Tagen: „Je suis Charlie.“ Ihren wunderbaren Optimismus in Ehren, Herr Vertlib, ist es mir leider nicht möglich, ihn so ganz zu teilen, denn nicht nur am politisch rechten Rand, auch nicht nur in der Mitte der österreichischen Gesellschaft regt sich das Begehr, missliebige Bilder und Meinungsäußerungen lieber eingeschränkt zu schen. Nein, selbst der gegenwärtige Inhaber des protokollarisch höchsten Staatsamtes, der Bundespräsident — ein Dr.habil., Jurist und Univ.-Prof. für Politikwissenschaft — Heinz Fischer hat sich am 13. Jänner im Verein mit den Repräsentanten aller in Österreich staatlich anerkannten Religionsgemeinschaften dafür ausgesprochen, die Strafbarkeit nach dem Blasphemie-Verbot gemäß $ 188 StGB (Herabwürdigung religiöser Lehren) nicht abzuschaffen, wie es die Grünen seit Langem fordern und es sich der Justizsprecher 8 _ ZWISCHENWELT der SPÖ, Jarolim, wenigstens schon vorstellen kann. In ihrem gemeinsamen Beschlusspapier halten Fischer, Schönborn, Pöll, Sanac und Konsorten unter anderem wörtlich fest: „Meinungsfreiheit und der Respekt vor dem, was anderen Menschen heilig ist, sind hohe Rechtsgüter, die ebenso gut nebeneinander existieren können wie Meinungsfreiheit und der Schutz vor Verleumdung und Beleidigung.“ Dieses Schulbeispiel für Behauptungen wider besseres Wissen hindert mich, Ihren Optimismus hinsichtlich der „meisten Menschen in Europa“ zu teilen. Denn solche Einstellungen, wie sie die Spitzen des Staates und dieser immer noch mächtigen religiösen Organisationen bekennen, sind natürlich auch in den unteren Regionen ihrer nachgeordneten Strukturen gleichfalls geläufig. Wie die Strafandrohung des Paragraphen $ 188 StGB die Religionen gegen das schützen soll, wodurch deren Mitglieder sich in ihrer Religion beleidigt fühlen, verstehe ich wohl; nicht hingegen, wie dieser „Schutz“ mit der Freiheit der Meinungsäußerung „ebenso gut nebeneinander existieren“ könnte. Gegen „Verleumdung“ gibt es die Strafandrohungen in $ 297 StGB; gegen Üble Nachrede, die unbeweisbar Ehrenrühriges jemandem nachsagt, den $ 111 StGB; und gegen „Beleidigung“ sowie Beschimpfung, Verspottung und Misshandlung den $ 115 StGB. Die Tatbildlichkeit nach diesen Gesetzesbestimmungen findet ihre Grenzen an den Verfassungsbestimmungen der Meinungsfreiheit und der von ihr abgeleiteten Kunstfreiheit. Früher einmal benötigte man gegen die Angriffe ausgewilderter Verletztheiten noch die Freiheit der Wissenschaft und ihrer Lehre; auch diese ist immer noch gültig festgeschrieben, obwohl — Frucht des zähen, oft gefährlichen Kampfes der Aufklärung — kaum mehr ein Wissenschaftler seiner Erkenntnisse wegen mit Verbrennung bedroht werden dürfte; zumindest nicht von den christlichen Konfessionen, in anderen Religionssystemen jedoch schon — dort gelten die oben genannten Verfassungsbestimmungen des Freiheiten-Schutzes allesamt blöderweise nicht. Und diesem letztgenannten Umstand hätten die Vertreter der in Österreich anerkannten Religionsgemeinschaften im Verein mit dem Herrn Benjamin Kaufmann Imaginationen Ich reich Dir meine leeren Hände wie wir spielten, wie wir liefen Bäche im Blutstau stürzen Narben unsichtbar denen ohne Erinnerung für Tränen der Verführung und Tränen des Schmerzes die sich gleichen wie alte Winde tragen weit Kinderstimmen in der Dämmerung Jagd und Versteck Friedlich eingeschlafen Wo warst Du? Jenseits des Flusses liegen Schneisen der Vernunft Risse der Trauer angstgewaschene Weiden ortlos Wurzeln schlagend in der Erinnerung fahl im Licht der Sonne leuchtend im Nebel Nachts immer Schwarz wie das Wasser aller Flüsse an deren Ufern Bundespräsidenten und im Windschatten der terroristischen Bedrohung halt unsere Rechtsordnung gerne angeglichen. Auch eine Art von „Integration“. Die Angehörigen der Religionsgemeinschaften sind in Ausübung von deren Riten und Verkündigung des Glaubens einschließlich des Wechsels der Religion oder Weltanschauung durch die Verfassungsbestimmung der Religionsfreiheit in Artikel 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention geschützt, soweit sie nicht gegen andere fundamentale Prinzipien wie z.B. das Verbot von pädophilen Handlungen oder der Misshandlung oder Tötung von Menschen verstoßen. Ein über die genannte Religionsfreiheit und über die oben genannten Strafdrohungen hinaus gehendes Schutzprivileg gegen die anderen oben genannten Freiheiten steht ihnen nicht zu. Diese zwei Lehrsätze sind in unserer Gesellschaft ein schützenswertes und, wie das Beispiel von Fischer etc. leider beweist, auch schutzbedürftiges kostbares Gut. Gerhard Oberschlick, geb. 1942 in Irschen, lebt als Publizist und Betreuer des Nachlasses von Günther Anders in Wien. Zuletzt erschien 2012 die von G. Oberschlick herausgegebene erweiterte Neuausgabe von G. Anders’ Roman „Die molussische Katakombe“. Koffer aus Beton größer als wir das Nötigste nur mahnend an der Tür nur nicht stolpern nur nicht lachen Koffer aus Beton tragen wir was wir nicht heben können was wir nicht wissen können blockierend den Weg bestimmend wohin Koffer an der Tür dorthin gegossen dorthin geschrien dorthin verloren was wir nicht verlieren können was immer da was nie geschehen Koffer aus Beton darin ein Koffer das Nötigste nur wir Benjamin A. Kaufmann, geb. 1991, Dichter, lebt und arbeitet in Wien. April 2015 9