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Daniel Kahn Die Kette der Vergangenheit Über Avrom Sutzkever Lieder sind wie Werkzeuge. Wir können sie stets bei uns tragen, anpassen und in Reaktion auf die verschiedenen Probleme unserer Welt gänzlich neu entwerfen. Aber welches Werkzeug nutzen wir, um die schwierigsten aller Sachverhalte anzugehen? Nur selten habe ich ein Lied gehört, welches zum Beispiel die Geschichte des Zweiten Weltkrieges zum Gegenstand hat. Referenzen fand ich in den Songs von Bob Dylan, Anklänge in den Texten von Leonard Cohen. Außerdem bei Woody Guthrie, in Pete Seegers anti-faschistischen Folkhymnen, vielleicht noch in den dunklen Untertönen einiger früher Punksongs. Und sonst? Kitsch wie bei The Sound of Music und Cabaret. Aber nichts davon schien mir wirklich in die Tiefe vorzudringen. Zumindest nichts, bis ich den jiddischen Lyriker Avrom Sutzkever entdeckte. Zwar schrieb er keine Lieder im eigentlichen Sinne, aber dem Jiddischen ist diese Unterscheidung ohnehin fremd. Ein Gedicht ist ein „Lid“. Genauso ein Musikstück. A Lid iz a Lid. Auf die Frage, was ihnen denn zu moderner jiddischer Lyrik einfalle, erwähnen die meisten Menschen wahrscheinlich das Shtetl oder das Ghetto — wenn ihnen denn überhaupt irgendetwas einfällt. Das ist gleichermaßen beklagenswert und verständlich, wenn man in Betracht zieht, dass die Geschichte des jüdischen Lebens in Osteuropa gewöhnlich auf das dramatische Narrativ rückwärtsgewandter Primitivität und brutaler Vernichtung reduziert wird. Und doch greift es viel zu kurz. Denn: Die jiddische Kultur vor dem Holocaust war kosmopolitisch, international und stand in regem Austausch mit der literarischen Moderne. In Odessa, Warschau, Chicago, New York, Berlin und Buenos Aires waren nahezu alle epochemachenden Werke der Literatur und Philosophie in jiddischer Übersetzung erhältlich. Die Menschen dort lasen Proust, Nietzsche und Whitman. Joyce, Heine und Hamsun. Oder die russischen Autoren Majakowski, Dostojewski und Gogol. All diese Autoren waren Vorbilder für jiddische Schriftsteller wie Peretz, Ansky, Manger und Bashevis Singer. Tatsächlich waren die Jahre vor dem Holocaust eine unglaublich fruchtbringende Zeit für eine außergewöhnlich fruchtbare Kultur. Eines ihrer Zentren - sowohl religiös als auch säkular — war Wilna, das heutige Vilnius, welches damals Juden auf der ganzen Welt als das „Jerusalem des Nordens“ bekannt war. Einer der Protagonisten des reichen kulturellen Lebens dieser Stadt war der junge Avrom Sutzkever. Geboren wurde er 1913 im Gebiet des heutigen Weißrussland; zum Zeitpunkt seines Todes im Jahre 2010 galt er als einer der größten jiddischen Dichter des 20. Jahrhunderts. Seine Bekanntheit stützte sich dabei nicht zuletzt auch auf das von ihm herausgegebene Magazin für jiddische Literatur Di Goldene Keyt (Die Goldene Kette), welches er in seiner neuen Heimat Israel nach dem Krieg gründete. (Sein kontinuierliches Engagement für das Magazin ist schon für sich genommen bemerkenswert, da der junge Staat Israel sein Bestes tat, die jiddische Sprache und Kultur zu unterdrücken.) Trotz all seiner Erfolge ist Sutzkever einem größeren Publikum außerhalb der Judaistik-Abteilungen einiger Universitätsbibliotheken weitgehend unbekannt geblieben. Und auch innerhalb besagter Judaistik-Abteilung wird man ihn wahrscheinlich cher unter der 10 ZWISCHENWELT Kategorie „Holocaust-Dichtung“ als unter „jiddische Dichtung“ finden. Ich persönlich stieß auf seine Lyrik in einem Buch über eben jenes Thema, nämlich in David Roskies Against the Apocalypse. Das war nur wenige Monate, nachdem ich nach Berlin gezogen war — eine Stadt, die ich als amerikanischer, im Wissen um den Holocaust erzogener Jude vorher noch nie besucht hatte. Mein erster Kontakt mit dem Ort, an dem die Katastrophe ihren Ausgang nahm, stellte die von mir bisweilen akzeptierten Narrative — zum Beispiel „jüdische Hilflosigkeit angesichts des Krieges“ und „nationalistischer Triumphkult in Israel nach dem Krieg“ — vollkommen in Frage. Einer Figur wie Sutzkever in diesem Kontext zu begegnen war für mich faszinierend. Ich stieß auf das Gedicht „Vi Azoy“, welches in lateinischer Umschrift so beginnt: Vi Azoy? Vi azoy un mit vos verstu filn, dayn bekher in tog fun bafrayung? Bistu greyt in dayn freyd tsu derfiln, dayn fargangenhayts fintstere shrayung? Vu es glivern sharbns fun tegin, a tom on a grunt, on a dek? ... Es gibt viele Ubersetzungen dieses Gedichts, die folgende ist meine eigene. Sie ist frei und rhythmisch, Ausgangspunkt eines Liedes: How? How, and with what will you fill your cup after your liberation? In your joy, are you ready to feel all of yesterdays dark lamentation? Where the days have congealed into skulls in a bottomless, endless abyss? You will search for the keys to your doors whose locks are all shattered and dead. You'll think: it was better before as you chew on the sidewalks like bread and the time gnaws you silent and numb like a cricket held inside a fist. And your memories will all be compared to a buried, forgotten old town and your outsider eyes they will stare like a mole crawling down, crawling down... (Wie und mit was wirst du fiillen deinen Becher am Tag der Befreiung? Bist du bereit beim Freudengebriill zu hören das Echo der Schreie? Wo Scherben funkeln von Tagen in Gräben ohne Boden, ohne Dach? Du wirst Schlüssel suchen, die passen in deine verrosteten Schlösser. Wie Brot wirst du beißen die Gassen und denken: Früher war es besser. Und Zeit wird stumm an dir nagen Wie eine Grille gefangen in der Faust Deine Erinnerung wird man vergleichen mit einem alten, erloschenen Dorf. Und deine Augen werden dort schleichen Wie ein Maulwurf, wie ein Maulwurf...) Das Gedicht erschütterte mich. Es lahmte mich. Allein diese letzte Strophe: Sie ist zwei Zeilen kiirzer, als es die Form eigentlich vorschreibt. Der Maulwurf grabt weiter und weiter, als hatte er sich verirrt, bis er sich dann schließlich verschämt in der Dunkelheit verliert. Das Gedicht wirkt dadurch gleichzeitig unfertig und endlos. Diese herausfordernde kleine Notiz — möglicherweise nur als Tagebucheintrag oder Brief an seine Frau verfasst — wurde für mich zu dem Prisma, durch welches ich die Geschichte betrachtete. Es erschien mir als eine Nachricht aus der Hölle, eine Meditation über das Unmögliche, eine Prophezeiung der Hilflosigkeit, eine Grabrede auf die Zukunft, eine Warnung vor der Hoffnung, eine Kapitulation vor der Nacht, eine Reihe von Fragen ohne Antworten, eine Handlungsanweisung für die auf ewig Verdammten. Am Ende des Gedichtes findet sich ein Postskriptum: „Wilnaer Ghetto — 14. Februar 1943“. Das Schicksal der Wilnaer Juden war ein Vorbote für das, was Hitler dem Rest Europas zugedacht hatte. Zum Zeitpunkt der Errichtung des Ghettos war der Großteil der jüdischen Bevölkerung der Stadt bereits in den nahen Wäldern von Ponary durch Massenerschießungen ermordet worden. Die verbliebene jüdische Bevölkerung wurde in einen kleinen Teil der Stadt gedrängt und von der Außenwelt abgeschlossen. Nach Jahren der fortlaufenden Demütigung, Korruption, Hunger, Krankheit und Mord wurde das Ghetto schließlich liquidiert. Nur einige wenige, die sich entschlossen hatten in die Wälder zu fliehen und als Partisanen zu kämpfen, überlebten den Krieg. Sutzkever war einer von ihnen. Im Wilnaer Ghetto hatte er kulturelle Veranstaltungen wie Ausstellungen, Performances, Konzerte und Lesungen organisiert, um zumindest einen Schein von Zivilisation inmitten von Mord und Chaos zu wahren. Er war Teil der sogenannten „Papierbrigade“, einer von den Nazi-Autoritäten gegründeten Gruppe jüdischer Intellektueller, welche die Schätze des YIVO Instituts (Osteuropas wichtigstem Archiv und jüdische Forschungseinrichtung) entweder zur Zerstörung oder zur Bewahrung in deutschen Museen zu überstellen hatten. Unter konstanter Lebensbedrohung hungernd und arbeitend, gelang es den Mitgliedern der Papierbrigade, eine außerordentliche Menge der wichtigsten Kulturgüter des osteuropäischen Judentums zu verstecken. Teile des Materials wurden nach dem Krieg gefunden und nach New York gebracht. (Daraus entstand das YIVO Institut in New York, Anm. d. Übers.) Später entwich Sutzkever aus dem Ghetto und wurde Partisan — genauso wie auch seine Dichterkollegen Abba Kovner, Hirsh Glik und Shmerke Kaczerginsky. Aber trotz der Tatsache, dass er selbst überlebte, hatte der Krieg seine Welt zerstört. Unter jenen, die im Ghetto starben, waren auch seine Mutter und sein kleiner Sohn, der von den Nazis vergiftet wurde, noch bevor er das Krankenhaus verlassen konnte. Dies war also die Welt, in der Avrom Sutzkever seine Gedichte verfasste. Und dennoch: Wo sich andere in Verzweiflung verlieren würden - in Wut und Unglauben, in religiösem Symbolismus oder Heroismus —, konzentrierte sich Sutzkever in seiner Lyrik auf die Taubbheit, Sinnlosigkeit und Verwirrung selbst. Er weigert sich, dem Holocaust eine lindernde Bedeutung beizumessen. Seine Krise ist eine Krise der Absurdität. Seine Bilder sind klein und greifbar: ein Schlüssel, eine Grille in der Faust, eine Tasse, ein zerstörtes Schloss. Und die Zeile über das Brot. Das Beißen in die Straße. Das war etwas, das hängen blieb. „Vi Azoy“ ist nur eines von hunderten Gedichten, die Sutzkever während des Krieges verfasste. Es demonstriert, wie die Geschichte einen Dichter der Innerlichkeit dazu zwang, ein Chronist der Außenwelt zu werden - politisch zu sein, Zeugenschaft abzulegen. Sutzkevers poetischer Sinn ist nicht das, was man von einem Analysten sozio-historischer Realitäten für gewöhnlich erwarten würde. Seine Vorkriegsgedichte waren zumeist apolitisch; eine Neigung, die nicht selten zu Konflikten zwischen ihm und seinen Dichterkollegen führte. Bis zum Krieg und noch einmal erheblich später in seinem Leben war Sutzkevers wirkliches Thema die menschliche Seele und die natürliche Welt - mit ihren Gefühlen, ihrer Schönheit, ihrer Form und ihrer Lyrik: All is worthy of the roaming of my eye, All is noble, precious for my verse; Grasses, trees, a spring, a vessel, earth, And the distant rainbow hues of sleep In everything, I come upon a splinter Of infinity. — (aus Valdiks, deutsch. „aus den Wäldern“, übers. von Barbara & Benjamin Harshav) Roskies nennt Sutzkever den großen jiddischen Neoklassizisten seiner Zeit. Mit ihrer Präzision, der Eleganz ihres Reimes und dem Fokus auf die lyrische Struktur steht seine Arbeit im Kontrast zu der urban-industriellen Ästhetik seiner Zeitgenossen. Aber dieser Fokus macht seine Arbeit in ihrem Anliegen und ihrer Vision nicht weniger modern. Als fluktuierendes Mitglied der literarischen Gruppe „Junges Wilna“ — die auch Giganten wie Chaim Grade zu ihren Mitgliedern zählte — war Sutzkever einer jener Autoren, welche die propagandistische sozialistische Fabriklyrik (sweatshop poetry) derälteren Generationen ablehnten. Wie die anderen Mitglieder des „Jungen Wilna“ war er inspiriert von den als „Inzikhistn“ oder „Introspectivists“ bekannten amerikanischen jiddischen Schriftstellern wie Yankev Glatshteyn und Anna Margolin oder von der als „Di Yunge“ bekannten Gruppe, der Dichter wie Mani Leyb angehörten. Viele ihrer Schriften wurden in der anarchistischen New Yorker Tageszeitung Fraye Arbeter-Shtime (Freie Arbeiterstimme) veröffentlicht. Diese Dichter schrieben größtenteils für ein Publikum, das seitdem verschwunden ist. Oder das es niemals wirklich gab. Auf jeden Fall schrieben sie für eine aktive, radikale jiddische Avantgarde — säkular und modernistisch. Sie erachteten sich selbst als Zeitgenossen und Verbündete von Schriftstellern wie Ezra Pound und T.S. Eliot, denen manche von ihnen (für gewöhnlich unbeantwortet gebliebene) Briefe schrieben. Auf eine bestimmte Weise können wir uns vielleicht glücklich schätzen, dass der Krieg Sutzkever zu seinem bewegenden Oeuvre inspiriert hat. Andererseits ist es eine Schande, dass der April 2015 11