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Holocaust das wichtigste Ereignis im Leben und Werk dieses großen Schriftstellers sein sollte. Für sich allein genommen war Sutzkevers Arbeit vor dem Krieg bereits tiefgründig und bewegend genug, um als wesentliche Bereicherung für die moderne Lyrik zu gelten. Aber die Fluchtlinie von Sutzkevers reicher, inspirierender Liebesbeziehung mit der Natur wurde von der Geschichte gewaltsam unterbrochen; seine Lyrik wurde nunmehr zu einem Register des Schmerzes und einem Ringen um Bedeutung und Erinnerung. Dabei war es eben jener in den Jahren vor dem Krieg entwickelte introspektive Ansatz, der es Sutzkever erst ermöglichte, Zeugnis vom Grauen des Krieges abzulegen. Sein Interesse galt einem allgemeinen Dilemma. Und es war seine Sensibilitat fiir die Mysterien des Lebens, die ihm dabei halfen die unermessliche Katastrophe zu adressieren, die ihm und dem europäischen Judentum widerfuhr. Es war eben jene Einsicht, die es ihm erlaubte, den Abgrund gleichsam von innen auszuleuchten. Vielleicht am interessantesten an dem oben angeführten Gedicht „Vi Azoy“ ist, dass es im Strudel der Ereignisse von 1943 im Angesicht völliger Unsicherheit bezüglich des eigenen Schicksals und dem der Welt verfasst wurde, aber dabei von nichts anderem spricht als von den Schwierigkeiten nach der imaginierten Befreiung. Eben der Moment, der als Gegenstand und Ziel aller Hoffnung gelten sollte, erscheint hier als leere Hülle, hinter der sich Trauma und Taubheit verbergen - gleich einer Art fortdauernden Albtraums. Indem es sich die Freiheit vorstellt, negiert das Gedicht ihre eigentliche Bedeutung. Inmitten des Terrors besaß Sutzkever also die philosophische Klarsicht, die Entfremdung und Verwirrung einer Generation von Überlebenden (und ihrer Nachkommen) zu erfassen. Vielleicht ist es diese Einsicht, die dem Gedicht seine Aktualität verleiht. Ein paar Jahre nach meiner ersten Lektüre des Gedichtes nahm ich an einem Kunstexperiment in Berlin teil. Eine israelische Regisseurin hatte eine multi-disziplinäre Gruppe von deutschen, israelischen (jüdisch und muslimisch) und palästinensischen Künstlern, Tänzern, Schauspielern, Musikern, Photographen und Schriftstellen um sich versammelt, um gemeinsam etwas zu entwerfen, das sie „Conflict Zone Arts Asylum“ nannte. Ich war nicht nur der einzige Amerikaner, sondern auch der einzige „Yid“, also Diaspora-Jude. Wochenlang trafen wir uns, spielten, sprachen und arbeiteten zusammen. Eine Übung, die ich mit der Gruppe ausprobierte, bestand darin, Gedichte in unterschiedlichen Sprachen zu lesen und jene zu übersetzen, die die jeweiligen Teilnehmenden am meisten ansprachen. Aus all der jiddischen Lyrik, die ich mitgebracht hatte, wählte ein palästinensischer Bildhauer das Gedicht „Vi Azoy“. Diese Zeilen, meinte er, erfassten genau jene Situation im Flüchtlingscamp, in der er zum ersten Mal hörte, dass Arafat „uns alle befreien“ werde. Er erinnerte sich an die Leere, die er angesichts dieser Aussicht auf Befreiung verspürte. Er fragte sich, womit er seinen Becher füllen würde. Er trug das Gedicht auf Arabisch vor. 12 ZWISCHENWELT Ich weiß nicht, was Avrom Sutzkever davon gehalten hätte. Den größeren Teil seines Lebens war er Israeli. Und als Israeli war er hochgechrt als Verbreiter und Repräsentant der jiddischen Sprache. Er bekam sogar den Israel Prize for Yiddish Literature zugesprochen. Doch für mich war dieser Moment der Solidarität inmitten der Aussichtslosigkeit eine enorme Quelle der Hoffnung. Darum entschied ich auch, dass „Vi Azoy“ ein „Lid“ ist, das gesungen werden sollte. Ich nahm mir also vor, meine eigene singbare „Iradaption“ (eine Fügung aus Übersetzung/ engl. ,, Translation“ und Adaption, Anm. d. Ubers.) auf Englisch anzufertigen, mit einer Melodie, die mein Klarinettist und Freund Michael Winograd komponierte. Das Liedgedicht „Vi Azoy“ funktioniert nicht nur als eine Form der Erinnerung und Ehrung für jene, die während des Holocaust gelebt haben und gestorben sind, sondern auch als eine Verhandlung des universellen Problems von Trauma, Verdrängung, Entfremdung und Erinnerung. Das Gedicht heute zu singen, heißt, eine kleine, aber radikale Rekontextualisierung seiner Bedeutung vorzunehmen. Es zwingt uns dazu, das Paradoxon anzuerkennen, welches sich zwischen einer hoffnungsvollen Zukunft und dem schreienden Abgrund der Vergangenheit ergibt. Vor kurzem diskutierte ich das Gedicht mit Janina Wurbs, einer jungen Jiddisch-Wissenschaftlerin und guten Freundin von mir. Sie erinnerte mich an eine Diskrepanz zwischen dem jiddischen Original und jener Version, die ich als Ausgangspunkt für meine Übersetzung genommen hatte. Ich muss das übersehen haben, als ich das Gedicht erstmals in Roskies Buch las. Sie sandte mir einen Scan des Originals. In der dritten Zeile, wo ich „fargangenhayt“ (Vergangenheit) gelesen hatte, hatte Sutzkever „fargangenKeyt“ geschrieben. Diese kleine Differenz, den Millimeter eines vertikalen Strichs zwischen einen Hey und einem Koof, eröffnete ein brillantes Wortspiel; „keyt“ bedeutet Kette, gleich der goldenen Kette im Namen von Sutzkevers Magazin. Sie verweist auch auf die Kette der Vergangenheit. Unsere Verbindung mit der Vergangenheit. Und Sutzkever verpflichtet uns, daran anzuknüpfen. Aus dem Englischen von Maximilian Czollek, der auch Sutzkevers Gedicht „Vi Azoy?“ aus dem Jiddischen ins Deutsche übertrug. Das englische Original des Aufsatzes „Ihe Chain of the Past“ ist im April 2013 in Asymptote erschienen. Aufder Website findet sich auch eine Aufnahme des Gedichtes „Vi Azoy‘, eingesungen von Daniel Kahn. Daniel Kahn, geb. in Detroit, ist Begründer und Sänger der KlezmerBand „Daniel Kahn & The Painted Bird“. Auf Max Czollek und seine Gedichte hat Matthias Fallenstein in ZW Nr 1/2013, S. 58 aufmerksam gemacht. — Vgl. auch Karl Müllers ausführliche Darstellung: Vom „Jerusalem des Nordens“ nach „Jeru—salem“ und zurück. Diaspora-Erfahrung im Werk Abraham Sutzkevers. In: Diaspora — Exil als Krisenerfahrung. Jüdische Bilanzen und Perspektiven, Wien, Klagenfurt/Celovec 2006, S. 217-244. (Zwischenwelt. Jahrbuch der Theodor Kramer Gesellschaft. 10). Konstantin Kaiser Ein besonderer Fall Laudatio für Harry Kuhner Gehalten bei der Verleihung des Theodor Kramer Preises für Schreiben im Widerstand und im Exil am 13. September 2014 im Pfarrsaal Niederhollabrunn. Es existiert kaum einer von den 193 Nationalstaaten auf Erden, der nicht auch international wäre. Wie immer willkürlich seine Grenzen gezogen sind und seine Geschichte verlaufen ist, wir merken das heute an unversehens aufbrechenden Konflikten in aller Welt, in der Ukraine, im Irak, in den postkolonialen Ländern Afrikas, selbst im Bereich der Europäischen Union. Entscheidend ist wohl, wie man mit dieser nationalen Internationalität umgeht —ob man sie unter Berufung auf die Ansprüche eines sogenannten Mehrheitsvolkes zu unterdrücken sucht oder als Verantwortung und Bereicherung wahrnimmt. Auch Österreich ist da kein Ausnahme - betrachten wir nur seine Literatur. Da gibt es „autochthone Minderheiten“ wie die Slowenen, Kroaten, Ungarn in Kärnten, der Steiermark und im Burgenland mit teils sehr bekannten und erfolgreichen SchriftstellerInnen, auch Roma, die z.B. auf Lovara schreiben, und zudem zahlreiche AutorInnen aus vieler Herren Ländern die, in Österreich aus welchen Gründen immer zugewandert, ihre Werke auf Russisch, Rumänisch, Türkisch, Farsi, Urdu verfassen und sich oft selber ins Deutsche übersetzen. Man vergesse nicht, daß Österreich einst auch eine bedeutende jiddische Literatur beherbergte - jiddisch, nicht jüdisch. Ich meine die Sprache der aus dem Heiligen Römischen Reich vom 12. bis 15. Jahrhundert nach Osten vertriebenen Juden, eine Sprache, die damals vom Deutschen abgezweigt ist und ihre eigenen Wege finden mußte. Herbert oder Harry Kuhner, unser Preisträger, ist ein besonderer Fall. Er schreibt seine Gedichte, seine Kurzprosa, seine kritischen Anmerkungen aufEnglisch. Doch ister ein geborener Österreicher und lebt in Österreich. Wie es dazu gekommen ist? Harry blieb nach seiner Geburt im Jahre 1935 wenig Zeit, die deutsche Sprache zu praktizieren. Als Juden verfolgt, mußten die Angehörigen seiner Familie aus dem 1938 zur Ostmark gewordenen Österreich fliehen. Nicht allen gelang dies. Drei Verwandte Kuhners mütterlicherseits, der Turmans, wurden im Mai 1942 von der Rueppgasse 16, wo auch der kleine Harry daheim gewesen war, nach Izbica deportiert, von wo dann die Züge weiter in die Vernichtungslager gingen. Kuhners Tanten und Onkel sind jedenfalls nicht zurückgekommen. Kuhner wuchs also in New York und New Jersey auf, besuchte amerikanische Schulen und studierte an der Columbia Universität. Als er 1963 nach Wien zurückkehrte, blieb er der Sprache seines Zufluchtslandes verbunden. Zwar übersetzter sich in vielen Fällen selber ins Deutsche — und ich hatte mitunter Gelegenheit ihm dabei ein wenig zu assistieren —, aber das Festhalten am Englischen hat auch seine unbestreitbaren Vorteile. Nicht allein erreicht er mit seinen Arbeiten dadurch Freunde in aller Welt, sondern kann sich auch in einer anderen Sprache bewegen, definieren als der, die er alltäglich hört und spricht. Er reagiert, heftig und sensibel April 2015 13