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Jiddische Arbeiterkultur und ihre sozialistischen Bewegungen, auf „Bund“ und „Klajner Bund“, ihre zahlreichen Sozialphilosophen und Schriftsteller wie Peretz, Eisenstadt, Sholem Asch und sogar den jiddisch sprechenden, einst katholischen deutschen Anarchisten Rudolf Rocker und sein Buch „Nationalismus und Kultur“. Der fortschrittliche Geist der unterschiedlichen jiddischen Gemeinschaften, die längst in New York oder Palästina existierten, hätte für uns Kinderheimjugend auch nahegelegen. Aber Madame Krakowski — nun war Madame angesagt, vorüber war es mit dem Ich und Du und andere mit dem Vornamen ansprechen — war, wie die Mehrheit ihrer Gehilfinnen, streng orthodox und malte alles schwarz, was einst weiß — oder soll ich sagen: rot — gewesen war. Die Integrität eines Kindes, im Gegensatz zur Einstellung eines Ernst Papanek und unserer früheren PädagogInnen, die alle respektierten, ob orthodox oder nicht, war ihr vollkommen fremd. Mir gelang es durch Kampf und Risiko in einem anderen OSEHeim unterzukommen. Geleitet von der bekannten antifaschistischen Pädagogin Dr. Lotte Schwarz, gab es mir die Möglichkeit, dieser zerstörenden Unterdrückung zu entfliehen und, wie sich später erwies, auch mein Leben zu retten. Für Dorli gab es kaum eine andere Lösung und so blieb sie zurück, zusammen mit ein paar alten Bekannten und neuen Freunden, von denen die meisten auch bald nach Amerika oder woandershin verschwanden und von denen keine Briefe ankamen oder nie geschrieben wurden. Und doch schreibt Dorli weiter ausführliche Briefe nach Amerika. Am 13. Juli 1942, zu ihrem vierzehnten und letzten Geburtstag, schreibt sie folgende Zeilen (ein Auszug aus ihrem vier Seiten langen Brief): „Wir haben keine Freiheit ... Mme Krakowski ist die directrice und schreit bei jeder Gelegenheit ... Ich habe keine besondere Zimmergesellschaft ... Hier ist alles fromm, den ganzen Tag wird gebetet und wir essen cosher ... Die Kinder, die neu kommen, miissen Orthodoxe werden. Echt Krake!“ So stand es nun da! Das lebenslustige und freigeistige Kind: verlassen und verraten von allen! Mit dem Vertriebenwerden aus ihrer geliebten Geburtsstadt Wien fing es an; dann Frankreich, das triigerische Exil, und im Hintergrund der Verrat der machtsiichtigen Sowjet-Kommunisten in Katalonien, wahrend die spanischen Republikaner an der Front Francos Faschisten bekämpften. Kurz darauf wurde der deutschsowjetische Pakt unterzeichnet, der den Nazis „Carte Blanche“ und die Petroleummacht gab, Westeuropa bis Frankreich zu überrennen und ihre mörderische Politik und Rassenverfolgung überall durchzusetzen. Und dazu die amerikanische, gefühllose Einstellung Asylwerbern gegenüber, bequeme „Nonintervention“ und schuldiges Schweigen. All das und nun Dorlis jüdisch-orthodoxe Wächter, denen es wichtiger war zu beten und das Risiko einzugehen, sich spärliches koscheres Fleisch vor den Augen der feindlichen Behörden zu verschaffen, als die ihnen anvertrauten Kinder gut zu ernähren und zu schützen. Die dritte Seite ihres Geburtstagsbriefes in die USA an die Freundin „Margnschlein“ beendet Dorli mit: „Für heute viele Bussi 22 __ZWISCHENWELT von Deiner oft an dich denkenden Fefespatzmops ... Herzliche Grüße an Deine Eltern.“ Hier muss ich beifügen, dass mir „Margnschlein“, als sie mir, 70 Jahre später, Dorlis Brief samt vierseitigem Gedicht zu Ehren Wiens übergab, anvertraute, dass sie sich gar nicht mehr an „Fefespatzmops“, d.h. an Dorli, erinnerte. Alle meine Versuche, ihr Gedächtnis wachzurütteln, waren vergebens. Dieses tragische Vergessen und Verneinen - nicht selten bei den Überlebenden - gab mir einen überwältigenden Stoß, mich auf die Beine zu machen, sodass Fefespatzmops Dorli nie mehr vergessen sein möge. Die Glocke zur Mahlzeit hatte wahrscheinlich geläutet, denn später, zurück im Zimmer: Überraschung! Die Solidarität unter den Kindern hatte sich nun doch, trotz aller Verschiedenheiten, durch das gemeinsame, immer größer werdende Elend und die zunehmende Gefahr gestärkt, und so fand Dorli ihr ganzes Bett über und über mit Geschenken bedeckt. Sie beschreibt eine neue, ganze vierte und letzte Seite lang jedes einzelne Geschenk und von wem es kommt: Verbindeschürze (Inge), Taschenmesser (Karla), Briefmäppchen (Irene), ein Pfirsich mit Gesicht und Schwanz (Denise), eine gefüllte Marille (Tascha), Dirndelbluse etc. etc. Wenn nicht die Namen dahinter stünden, so glaubte man, es wäre die Liste geträumter Sachen der Maria von Trapp im Film „Ihe Sound of Music“. Am Abend gelingt es ihr auch endlich, geheim und allein ihr „läubchen“, dem sie treu bleibt, zu treffen und sich strahlend damit zu begnügen, einfach zusammen Händchen zu halten. Ach, ist das Leben nicht wunderbar: Heute Geburtstagsfeier, morgen der 14. Juli, Nationalfeiertag, und die Sommerferien fangen an. Ein erbärmlicher revolutionärer 14. Juli, muss man wohl sagen! Frankreich hatte seine Marseillaise vergessen und verehrte nun den Nazikollaborateur Marechal Petain als Retter de la France. Dorlis Lebensmut war aber nicht zu dämpfen und so blieb sie der kleine Regenbogen unter den Wolken. Als Erbin der Arbeiterkultur war sie sich der Notwendigkeit des Lernens als Lebenskapital bewusst und betrachtete die Hände als erstes Werkzeug; und so blieb sie weiterhin eine Hleißige Schülerin. Ihre schön geschriebenen Briefe und ihr wunderbares Gedicht zu Ehren Wiens beweisen, dass sie fehlerlos Deutsch schreiben konnte und noch dazu fähig war, nach einigen Monaten nun den französischen Volksschulabschluss, Le Certificat d’etudes, zu bestehen. Ein bedeutsamer erster Schritt, um einmal ein selbständiges und nützliches Leben zu führen! Während der Sommerferien würde sich wohl auch entscheiden, ob sie weiter studieren oder in die Lehre gehen würde. Vorläufig würde man vorsichtig und geheim versuchen, die Eltern zu besuchen und es vielleicht sogar wagen, im Untergrund zu verschwinden. Aber die Nacht über Europa spannte sich unbarmherzig über Dorlis Existenz und so verschwand sie spurlos in der grausamen Nacht! Ja, sie verschwand samt ihren Eltern, erst wegen eines schlecht buchstabierten Familiennamens auf der Todesliste des Deportationstransports convoi No. 30 vom 9. September 1942, dessen Frauen und Kinder, getrennt von den Männern, direkt nach Auschwitz-Birkenau und zu seiner Wannsee-Kultur geliefert wurden... Und dann die Verneinung ihres Todes durch jene, für die ihr Tod zu schmerzhaft blieb, um es sich eingestehen zu wollen. Aber das Licht brach an dem Tag an, als ich einst die Liste vom convoi No. 30 nachprüfte; den Namen meines Vaters, der zurückkam, fand und auch die Namen derer, die nicht überlebten, wie Adele Kurzweil, deren Schicksal wegen des gefundenen Koffers langst bekannt ist und... natiirlich: Doris Lobl und ihre Eltern. Es ist aller Wahrscheinlichkeit nach zu vermuten, dass das zu schnell erwachsen gewordene, mutig-solidarische Kind ihre längst geistig gebrochene Mutter bis in die Gaskammer hinein begleitete. Nach diesen grausam letzten Schritten gab es kein „Unsterbliche Opfer ihr sanket dahin“, ein klassisches sozialistisches Trauerlied, von Dorli so oft für andere gesungen. Es gab nur donnerndes Schweigen. Aber wie gesagt: „Sollte der ganze Schnee wegbrennen, die Asche bleibt uns doch.“ Und so erhebt sich heute aus Dorlis Asche die Mahnung: Es heißt, dem Unheil den Hof machen, wenn wir vergessen, wer immer und was immer nur sei, dass ein Kind ist ein Kind, ist ein Kind und ein Mensch ist ein Mensch, ist ein Mensch. Und die Notwendigkeit als unsere erste Lebenspflicht anzuerkennen, immer wieder, trotz allem, wie ein Sisyphos unsere Lasten zu tragen und doch hoffnungsvoll „Aufwärts blicken, vorwärts drängen“ und nicht vergessen als einziges „über alles auf der Welt“: die universelle Solidarität. Andreas Pritzker Mein antisemitischer Sommer 2014 Manchmal scheint es, als ob Antisemitismus vor allem eine Angelegenheit von martialisch und mit Naziemblemen daher marschierenden Glatzköpfen oder von jungen randalierenden Moslems sei. Das ist nicht so. Antisemitismus gehört zur gesellschaftlichen Normalität — wie schon immer. Antisemiten sind oft nette, hilfsbereite Menschen — nur bei den Juden rasten sie aus. Mein antisemitischer Sommer fing im Mai an, bei einem Abendessen auf dem Balkon. Wir führten ein angeregtes Gespräch, und irgendwann erklärte Marcel, die USA würden von Tel Aviv aus regiert. Das fasste ich zunächst als Witz auf. Ich schwieg dazu, bis er den Satz wiederholte, diesmal mit Nachdruck, Zustimmung heischend. Man hört diesen Spruch bisweilen auch in der Variante, die jüdische Lobby habe in den USA das Sagen — was nur zeigt, dass die Feindschaft gegen die Juden kaum zwischen Israel und der Diaspora unterscheidet. Zieht man die politischen Strukturen der USA in Betracht, entpuppt sich auch diese Aussage als hanebüchene Verschwörungstheorie. Ihr Zweck ist es, die Juden zu dämonisieren. Die „Protokolle der Weisen von Zion“ lassen grüßen. Marcel bestritt allerdings, dass der Spruch antisemitisch sei, und beteuerte heftig, er sei kein Antisemit. Er fühlte sich wegen des Vorwurfs gar ein bisschen beleidigt! Dann erhitzte sich die Diskussion ein wenig. Marcel bezeichnete die Juden als geizig. Als Beleg zitierte er die in schweizerischen Fliegerkreisen umherschwirrende Legende, dass die Juden auf den Flügen Zürich — Tel Aviv alle Klosettrollen zu klauen pflegten. Darauf erklärte ich, dass ich hälftig auch zu diesem Club gehörte und erntete ein ungläubiges „Aber du bist doch gar nicht so!“. Niedlich. Das „hälftig“ überhörte Marcel geflissentlich. Nicht verwunderlich, denn die Mehrheit der Prof. Vera Freud wurde 1928 in Deutschland geboren. Ihre frühe Kindheit verbrachte sie in Spanien und Frankreich. Ihr Vater war Jude und Überlebender der nationalsozialistischen Vernichtungslager. Ihre Mutter schloss sich dem spanisch-französischen Widerstand in Frankreich an und überlebte ebenfalls den Krieg. Vera Freud verbrachte den Zweiten Weltkrieg größtenteils in einer Reihe von Kinderheimen für Opfer der Naziverfolgung. Nach dem D-Day schloss sie sich noch für einige Monate der Resistance an. Nach dem Krieg lebte und studierte sie in Paris, wo sie Walter Freud kennenlernte. Die beiden heirateten und zogen nach Südafrika, wo ihre beiden Söhne zur Welt kamen. Das inakzeptable Apartheidsregime Südafrikas bewog sie, nach Kanada zu übersiedeln, wo Vera Freud ihre Studien wiederaufnahm und schließlich am PSBGM (Protestant School Board of Greater Montreal) zu unterrichten begann. Nach dem tragischen Ableben ihres Ehemannes ging sie frühzeitig in Pension, widmete sich von nun an der Durchsetzung der Menschenrechte und speziell der Kinderrechte. Sie war von 1987 bis 1992 ständige Vertreterin der Internationalen Humanistischen und Ethischen Union (IHEU) bei der UNESCO. Neben u.a. der Schriftstellerin Margaret Atwood ist sie im kanadischen Unterstützungskomitee von Child Haven International aktiv. Nichtjuden wendet heute noch unbekümmert die Nürnberger Rassengesetze an, wo es um die Etikettierung der Juden geht. Schließlich lieferte Marcel eine Begründung für den Antisemitismus: Wenn ein Volk während einer so langen Zeit von allen Seiten abgelehnt wird, dann ist es selbst schuld daran. Marcel ist ein freundlicher, erfolgreicher Banker, der aus der Innerschweiz stammt. Im Allgemeinen legt er großen Wert auf politische Korrektheit. Vielleicht hat seine Ablehnung der Juden mit einer Tradition bei Bankern zu tun. Oder sie wurzelt in der Familientradition. Wie auch immer, die Begründung ist ein antisemitischer Klassiker geworden. Sie klingt ein bisschen nach Ingenieurlogik — wie wenn es darum ginge, menschliches Verhalten in einfach zu berechnende Formeln zu fassen. Zugegeben, die Erklärung ist schr befriedigend, weil sie die Objekte des Antisemitismus gleichzeitig auch zu dessen Subjekten ernennt. Damit hat sich der Kreis geschlossen. Antisemiten werden gleichsam zu Opfern. Sie können schlicht nichts dafür, dass sie gegen die Juden mit Ablehnung reagieren. Peinlich daran ist, dass alle Sorten von Antisemitismus — der religiös bedingte, der rassisch bedingte, die Ablehnung des Fremdartigen, derjenige aus Neid oder Konkurrenz oder auch schlicht aus Bösartigkeit — zusammengemixt werden. Ich habe dieselbe Begründung übrigens das erste Mal im Zusammenhang mit den Frauen gehört („Wenn eine Minderheit [sic!] während Hunderten von Jahren unterdrückt wird, ist sie selbst daran schuld“). Unvermeidlich, dass auch der Gaza-Krieg sich in meinem Sommer des Antisemitismus auswirkte. Diesmal bei einem Geburtstagsfest in einer sommerlichen Gartenwirtschaft. Nun ist es normal, wenn Israel unter dem Eindruck der Berichterstattung kritisiert wird. April 2015 23