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der Familie und Kinderbetreuung zuständig — ein schwieriges, oft unmögliches Unterfangen; es bedeutet, abgetragene Kleider nochmals zusammenzunähen und zu flicken, aus nichts etwas Essbares zu machen... Frauen haben deshalb noch geringere Bildungschancen als Männer. Schule und berufliche Ausbildung sind für sie zweitrangig. Das ist auf patriarchale Rollenbilder zurückzuführen und wird durch die soziale Situation noch verstärkt. Denn die jungen Männer sind einen großen Teil der Zeit auf Jobsuche unterwegs. Ein weiteres Problem stellen die frühen Schwangerschaften dar. Die jüngste Frau, die schwanger war und von der Foundation betreut wurde, war ein elfjähriges Mädchen. Deshalb sei es ganz wichtig, Aufklärung zu den Themen Verhütung und Familienplanung anzubieten. Ein weiteres Problem für Frauen ist die Gesundheitsvorsorge, im Besonderen jene gegen HIV, denn viele der jungen Männer in Stolipinovo gehen als Stricher nach Deutschland, um Geld für ihre Familien zu verdienen. Die Betreuung und Begleitung solcher jungen Familien — die Eltern sind Jugendliche oder fast noch Kinder - ist auch deshalb wichtig, weil ihnen sonst die Kinder von den Jugendämtern weggenommen werden. Eine soziale Begleitung der Familie erleichtert wiederum die Rückholung fremd untergebrachter Kinder in die eigene Familie. Frauen, die alleine sind, weil der Mann sich von ihnen trennte oder im Ausland blieb, haben den doppelten Druck: Familienarbeit und Geldverdienen, und das unter katastrophalen sozialen Bedingungen. Nur wenige Frauen in Stolipinovo, meinte die Mitarbeiterin, gehen der Sexarbeit nach, und wenn sie es tun, handelt es sich um Alleinstehende. Am Montag früh holt uns Assen ab und bringt uns mit seinem Auto nach Sofia. Ich trage während der Fahrt wenigzum Gespräch Tanja Dückers Reise nach Minsk Wenn ich Freunde frage, wie lange man wohl von Berlin nach Minsk fliegen würde, liegt keiner von ihnen richtig. Freunde, die alle schon viel gereist sind. Tatsächlich braucht man von Berlin nach Minsk nur anderthalb Stunden. Doch gefühlt sind es eben cher drei Stunden. Drei Stunden — das schätzten die in Geographie eigentlich bewanderten Freunde und Kollegen im Durchschnitt. Über Warschau beginnt schon der Sinkflug, es breiten sich einige Seen, Sümpfe und Wälder unter mir aus — dann landen wir in der Hauptstadt von Belarus. Anlass meiner Reise ist eine Einladung des Goethe-Instituts — unter anderem hat es mir den Kontakt zu dem ehemaligen Zwangsarbeiter Lew Leonidowitsch Kolossow vermittelt, den ich interviewen möchte. Zwei Dinge fallen dem Belarus-Erstbesucher sofort auf: keine Reklame — außer für Lenin -— am Rande der Schnellstraße, die vom Flughafen hinein in die Stadt führt. Und: Die Innenstadt von Minsk ist so sauber wie wohl keine andere Stadt Europas, mit Ausnahme von Zürich. Berlin kommt einem im Vergleich hierzu wie ein verwilderter, anarchistischer Garten vor. Minsk ist prächtig, wer ein Faible für stalinistische Architektur hat (ich habe es), kommt hier voll auf seine Kosten. Die Karl-Marx-Allee in Berlin nimmt sich niedlich aus im Vergleich zu den Minsker Prachtboulevards. Die Armut des Landes versteckt sich hier gut. Was auch auffällt, ist die geringe Anzahl von (erkennbaren) 28 _ ZWISCHENWELT bei. Bilder der letzten drei Tage gehen mir ständig durch den Kopf, Ausschnitte von Gesprächen fallen mir ein. Der Abschied am Flughafen ist herzlich und kurz: Assen steht im Halteverbot. Bis unser Flug aufgerufen wird, schlendern wir durch die Shops. Ich empfinde als irritierend luxuriös, was mir bei der Anreise in Schwechat so vertraut war, dass ich es kaum wahrgenommen hatte. Ich fühle mich fremd hier. Nähere Informationen zur ROMA Foundation sowie zur Partnerschaft mit der Plattform unter: http://www.menschenrechtesalzburg.at Josef P. Mautner, geb. 1955 in Salzburg; Studium der Literaturwissenschaft und Theologie; freier Schriftsteller und Lektor; Schwerpunkt in den Bereichen „Ästhetik der späten Moderne“ sowie „Literatur und Religion“. Geschäftsführer des Bereichs „Gemeinde & Arbeitswelt“ in der Katholischen Aktion; in diesem Rahmen seit 1990 kontinuierliche Arbeit mit MigrantInnen und Flüchtlingen; seit 1999 regionale Menschenrechtsarbeit im Rahmen der „Plattform für Menschenrechte Salzburg“ (Interkulturpreis 2004, Innovationspreis des Forums Katholischer Erwachsenenbildung Osterreich 2006, SozialMarie 2007). Aufsätze zu literaturwissenschaftlichen sowie zu Menschenrechtsthemen; siehe: http:lwww.josefmautner.at Publikationen, u.a.: agenda menschenrechte. Notizen zum politischen Proceß (Salzburg, Wien 2013); Nichts Endeültiges. Literatur und Religion in der späten Moderne (Würzburg 2008); Der Kobold der Träume. Spuren des Unbewussten (gem. mit R. Habringer; Wien 2006). Auslandern in Minsk. Allein der internationale Flughafen ist winzig. Kein Wunder, es kommen nur gut zwei Millionen Gaste pro Jahr in das Land (zum Vergleich: Allein nach Berlin kommen pro Jahr an die zwölf Millionen Touristen). In meinem Hotel sind hauptsächlich Russen. Ich erfahre, dass sie gern nach Belarus kommen, „denn da sieht es ein bisschen so aus wie bei uns noch in den Achtzigerjahren“. Etwas Stilles und Strenges liegt über der Stadt, das nicht so ganz zu der auffälligen Liebenswürdigkeit, fast Weichheit der Menschen zu passen scheint. Selten habe ich so viele hilfsbereite, am Gast interessierte, engagierte Menschen kennengelernt wie hier. Ein Spaziergang durch die Stadt — in all ihrer stalinistischen Pracht — macht deutlich, wie sehr Minsk von den Deutschen zerstört wurde. 90 Prozent der Bausubstanz lag in Schutt und Asche. Anders als in Warschau, wo eine bürgerliche Oberschicht - zum Teil aus dem Exil — das Geld aufbringen konnte, die komplett zerstörte Altstadt wieder perfekt aufzubauen, stehen in Minsk nur wenige Häuserzeilen, die an die Zeit vor dem Einmarsch der deutschen Truppen erinnern. Aufalten Postkarten von Minsk kann man die Stadt schlicht nicht wiedererkennen. Immerhin wurde eine Handvoll historischer Sehenswürdigkeiten in der Oberstadt inzwischen sorgfältig renoviert: darunter das Rathaus aus dem 17. Jahrhundert und die strahlend weiße Heilig-Geist-Kathedrale des weißrussischen Exarchats der russisch-orthodoxen Kirche, deren beide schlanken Türme aus dem realsozialistischen Häusermeer herausragen. Eine solche Auslöschung von Geschichte habe ich noch nirgendwo erlebt. Vielleicht erklärt dies auch, warum hier weniger Widerstandskraft, weniger kollektives Identitätsgefühl übrig war, um sich später erfolgreicher gegen Einflussnahme und autoritäre Beherrschung zur Wehr zu setzen. Die russische Dominanz ist überall spürbar: Ich erfahre, dass vor Kurzem überlegt worden war, den russischen Rubel in Belarus einzuführen — gemäß der Vorstellung, die Handelsbeziehungen noch weiter zu vereinfachen, Belarus gehöre doch eh zu Russland. Aber Lukaschenko hat diesen Vorschlag aus Russland — wie habe ich nicht genau erfahren können — abwehren können. Im Fernsehen werden alle überregionalen Nachrichten auf Russisch gesendet. Die Nachrichten stammen von russischen Sendern, nur die Lokalnachrichten („Ein Traktor stürzte in einen Fluss...“) sind auf Belarussisch und werden hier produziert, wie man mir erzählte. Als Lukaschenko eine Handelsunion mit der EU in Erwägung zog, folgten gleich Repressionsankündigungen aus Russland (Androhung einer massiven Erhöhung der Gaspreise), so dass Lukaschenko augenblicklich von seinem Plan abrückte und der Eurasischen Wirtschaftsunion (Russland, Kasachstan, Belarus) beitrat. Doch Belarus ist unendlich viel mehr als „Lukaschenko“ — auch wenn im Westen der Name des Landes quasi mit dem des Dauerherrschers gleichgesetzt wird, was eine böse Affirmation der Megalomanie Lukaschenkos bedeutet und die Bevölkerung einfach in Sippenhaft nimmt. Dieser verengte Blick verschließt dem westlichen Besucher jede Kenntnis der Vielfalt des Landes. Dennoch, die Selbstverständlichkeit, mit der meine belarussischen Kollegen beim gemeinsamen Essen in einem Restaurant auf ein gegenüberliegendes angestrahltes Gebäude zeigen und sagen „Ach, das ist unser KGB“ hat etwas Erschütterndes. Wenn man fragt: „Wie, KGB? Heißt das noch so?“, lautet die Antwort: „Man hat sich nicht die Mühe gemacht, den Namen zu ändern - es ist eben einfach so.“ Dann spürt man, spätestens bei dem „es ist eben einfach so“, die Melancholie eines Volkes, das keine erfolgreichen Umstürze oder Revolutionen kennt, fast immer unter Fremdherrschaft stand und das Eroberungsgebiet für Litauer, Polen, Russen und Deutsche gewesen ist. Vielleicht steckt aber auch eine stille Kraft darin zu sagen, wir können die großen Verhältnisse nicht ändern, wir ignorieren sie, so gut es geht. Der Klügere gibt nach. Diese vorsichtige Klugheit scheint vielen der Belarussen, die mir begegnet sind, zu eigen. Das gilt auch für Lew Leonidowitsch Kolossow. Wir trafen uns im Minsker Goethe-Institut, der dort tätige Bibliothekar Alexander Nasartschuk fungierte freundlicherweise als Übersetzer aus dem Belarussischen. Da steht er vor mir, der 82-jährige großgewachsene Mann. Als er mir die Hand schüttelt, spüre ich, wie viel Energie in ihm steckt. Vielleicht hat ihm diese Kraft geholfen, die Zeit, die er damals als verschlepptes Kind in einer Werkzeugfabrik arbeiten musste, zu überleben. Herr Kolossow erzählt gern seine Geschichte - es ärgert ihn, dass er nicht noch öfter die Gelegenheit dazu hat. Vor einem halben Jahr war die Stiftung EVZ (EVZ steht für Erinnerung — Verantwortung — Zukunft; die Stiftung entschädigt im Auftrag der Bundesrepublik Deutschland ehemalige Zwangsarbeiter in Mittel- und Osteuropa) in Minsk und hat sich mit ehemaligen ZwangsarbeiterInnen befasst, aber er war nicht dabei. „Es sind immer die gleichen Vorzeigegesichter, die für solche Zwecke genommen werden“, sagt er bitter. Dabei ist seine Geschichte sehr eindrücklich: Er war zwölf Jahre alt, als die deutsche Besatzungsverwaltung mit Hilfe der Schutzpolizei in sein Heimatdörfchen Luninez, in der Nähe des Pripjat, des größten Nebenflusses des Dnepr, gelegen, eindrang und ihn und seine Familie verschleppte. Dieser Tag war der 8. Juli 1944, und Lew Kolossow wird ihn nie vergessen. Manchmal entscheiden wenige Stunden über ein Schicksal. „Hätte ich mich nur irgendwo verstecken können“, seufzt er jetzt. Denn wenige Stunden später zogen die Deutschen ab, nach über dreijähriger Besatzungszeit. Zwei Tage später, am 10. Juli, stand die Rote Armee in Luninez. So wird der Junge mit seinen Eltern und seiner jüngeren Schwester noch von den im Abzug begriffenen Deutschen vom südlichen Weißrussland nach Königsberg und von dort nach Brandenburg, Posen und Erfurt verfrachtet. „Schlimme Transporte waren das“, sagt Herr Kolossow. Von dort forderte die Firma „Gebrüder Heller“ die ganze Familie, inklusive der erst achtjährigen Schwester, als Arbeitskräfte in Schmalkalden, einer kleinen thüringischen Fachwerk-Ortschaft, an. Sie wurden in einem Barackenlager in der Nähe der Fabrik untergebracht. Es waren Baracken mit Lehmboden, dreistöckigen Pritschen, Läusen und Wanzen. Als Toilette dienten Locher im Lehmbéden, es stank. Nebenan befand sich eine Art „Krankenstation“. Wer dorthin kam, kehrte selten zurück. Diese Krankenbaracke nannten wir, so erzählt Lew Kolossow, „das deutsche Paradies“. Der kleine Lew musste sich den ganzen Tag an den Maschinen abplacken — jeden Tag von 8 bis 16 Uhr. Die Erwachsenen arbeiteten von 6 bis 18 Uhr, mit einer fünfundvierzigminütigen Mittagspause. Zwei bis drei Stunden benötigte man noch täglich zum Aufräumen der Halle. In dem Werk wurden — und werden noch heute — Werkzeuge hergestellt. Nur der Name des Werks hat sich geändert. Heute heißt es „Herwig Bohrtechnik“. Die deutschen Wörter für die Werkzeuge, die der Junge herstellen oder bearbeiten sollte, lernte er stets auf grobe Weise. Als er nicht wusste, was das Wort „Hammer“ bedeutet, schlug ihm sein Vorgesetzter mit einem Hammer in den Rücken. „Hammer“, murmelt Lew Kollosow vor sich hin. Man spürt förmlich, wie sich dieses Wort in sein Gedächtnis eingebrannt hat. Er kennt noch eine ganze Reihe deutscher Worte. Hunger herrschte, so erzählt Lew Kolossow, „eigentlich ständig“. Pro Woche bekam ein Arbeiter genau ein Brot, das man sich für die sieben Tage gut einteilen musste. „Man musste ... die Kraft und den Willen haben, es nicht mit einem Mal aufzuessen.“ Am Morgen erhielt ein Arbeiter „einen Krug mit heißer Flüssigkeit“, hier grinst Lew Kolossow, „genannt Kaffee. Das war ein sogenannter Kaffee-Ersatz, hergestellt aus verschiedenen Gräsern, Eicheln und sonst noch was.“ Der Junge hat auch Schnecken, Beeren und Pilze in den umliegenden Wäldern gesammelt. Auch Vögel wurden gefangen und gegessen. Den Zusammenhalt im Lager beschreibt Lew als gut. Selbst sein Hobby, das Lew schon als Schüler vor der Verschleppung betrieben hatte, das Briefmarkensammeln, kann er dank Geschenken von Freunden im Lager weiterbetreiben. So wenig es zu essen gab, so viel die ZwangsarbeiterInnen wegen Nichtigkeiten von den Vorgesetzten geschlagen und verprügelt wurden („bis mir das Blut aus Ohren, Nase und Mund kam“, so Lew Kolossow), so viele Briefe trudelten aus aller Herren Länder im Lager ein. Und die Briefmarken gaben viele dem kleinen Lew. Die Marken aus der Lagerzeit (einige gingen auch in den Wirren der Kriegszeit April 2015 29