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wieder verloren) bildeten den Grundstock für die umfangreiche Sammlung des späteren Philatelisten. Rückblickend meint Lew Kolossow über das Jahr im Lager: „Die Marken halfen mir, dieses Leben besser zu ertragen.“ Fast ein Jahr hat Lew Kolossow im Deutschen Reich als Zwangsarbeiter geschufter. Im Jahr 2004 reist Lew Leonidowitsch Kolossow zum ersten Mal seit sechzig Jahren nach Thüringen. Seine Frau und seine Enkeltochter begleiten ihn. Er besucht die Werkzeugfabrik. Er erinnert sich an jedes Detail, führt durch die Halle. Er kann genau zeigen, an welchem Platz er damals gearbeitet hat. Herr Kolossow hat dem gegenwärtigen Fabrikleiter sowie dem Bürgermeister von Schmalkalden dann auch seine Erinnerungstücke gezeigt: zum Beispiel den Aufnäher, auf dem „Ost“ stand, den er immer an seiner Kleidung tragen musste. Später besucht er in Schmalkalden noch das Denkmal für die 61 beigesetzten sowjetischen Zwangsarbeiter, darunter fünf Kinder. Die Wiedereingliederung in die sowjetische Gesellschaft gestaltete sich schwierig für Kolossow. Zwangsarbeiter, die im Deutschen Reich tätig gewesen waren, „galten als Verräter und Kollaborateure“, so Dieter Boßmann von der Heinrich-Böll-Stiftung, die diese erste Reise nach Schmalkalden organisiert und finanziert hat (insgesamt war Lew Kolossow viermal in Schmalkalden; unter anderem hat er an lokalen Projekten mit Schülern über Zwangsarbeit teilgenommen). Viele ehemalige Zwangsarbeiter seien in der Sowjetunion gleich wieder in Lager gesperrt worden. Lew Kolossow durfte lange Zeit nicht studieren. Doch er wehrte sich: Er schrieb an Nikita Chruschtschow persönlich und bat um eine Ausreiseerlaubnis nach Polen, da er in der Sowjetunion nicht studieren dürfe. Nun wurde ihm doch noch ein Studienplatz bereitgestellt — er konnte die Fächer Ingenieurswesen und Energetik belegen. Später wird er als Ingenieur an der Akademie der Wissenschaften arbeiten. Seiner Frau hat er erst 1986 von seiner Zeit als Zwangsarbeiter im Deutschen Reich erzählt. Erst in den Neunzigerjahren durfte er öffentlich erzählen, dass er im Deutschen Reich gearbeitet hat. Und einen weiteren späten Trost gibt es vielleicht für Lew Leonidowitsch Kolossow: Seine Enkelin hat ihre Diplomarbeit über belarussische Zwangsarbeiter im Deutschen Reich geschrieben und sich stark an seiner Geschichte orientiert, sie aufgearbeitet. Dafür ist Herr Kolossow ihr schr dankbar. Als ich ihn frage, wie er über das heutige Deutschland denkt, ob es ihn nicht irritiert und wütend macht, wie gut es den meisten Deutschen heutzutage geht, wohingegen die Menschen in Belarus — einem Opferland des Zweiten Weltkriegs — doch in jeder Beziehung, materiell wie hinsichtlich freiheitlicher Grundwerte, schlechter dastehen, schüttelt er den Kopf. Nein, er hegt keinen Groll gegen die Deutschen. Nicht gegen die Deutschen an sich und schon gar nicht gegen die jetzt lebenden Deutschen. „Das ist ein anderes Deutschland, andere Leute.“ Er erzählt von einem Buchhändler in Schleswig- Holstein, der ihn als Zeitzeuge zu einer Veranstaltung eingeladen und „sehr gut behandelt“ hat. Und Frau Merkel sei seiner Meinung nach eine gute Politikerin. Ich schaue skeptisch. Aber Herr Kolossow sieht mich mit dem ihm eigenen, schr bestimmten Gesichtsausdruck an. „Sie ist gut für die Deutschen.“ Ich schweige. Und: „Die Deutschen sind mit sich selber ins Gericht gegangen, dort hat es eine kritische Beschäftigung mit der Vergangenheit gegeben. Das kann man nicht von vielen Ländern behaupten.“ Von der Stiftung EVZ hat Lew Kolossow einmal Geld erhalten. Für einen belarussischen Pensionär mag es viel Geld sein, als Deutsche ist man nur beschämt, wenn man die Höhe der 30 ZWISCHENWELT Summe hört: 700 Deutsche Mark (ungefähr 350 Euro). Aber die ehemaligen Zwangsarbeiter seien mit dieser Auszahlung zufrieden, meint Vera Dziadok vom Goethe-Institut Minsk. Denn im Vergleich zum weißrussischen Staat sei der deutsche Staat „großzügig“: „Eine einmalige Entschädigung für die Opfer der Repressalien der Dreißigerjahre, durch belarussische Behörden ausgezahlt, betrug eine Summe, die gerade mal für eine Flasche Wodka ausreichte.“ Das Gespräch scheint Herrn Kolossow erfrischt und nicht ermüdet zu haben. Der Händedruck des Zweiundachtzigjährigen ist nun noch fester, er federt hinaus. Am Abend findet meine Lesung im Goethe-Institut statt. Die deutschenfreundliche Haltung, die Herr Kolossow trotz seines schweren Schicksals aufbringen konnte, weiß ein Gast hier noch zu übertreffen. Er äußerst sich jedoch nicht lobend über das heutige Deutschland, sondern zu meiner Überraschung über das Dritte Reich. „Natürlich mussten die Deutschen kämpfen. Wollten sie denn von den Russen überrannt werden? Grausamkeit gehört zu jedem Krieg dazu! Die Russen waren noch schlimmer als die Deutschen.“ Er monologisiert, ein Gespräch mit ihm ist nicht möglich. Andere Gäste schalten sich ein. Aber der Herr redet sich in Rage, Hitler erscheint bei ihm wie ein netter „Hart-aberherzlich“-Typ, ein guter Kerl, der die Ärmel hochgekrempelt hat. Je länger der bullige Mann redet, desto verwirrter wirkt er. Plötzlich erzählt er, dass er in Afghanistan gekämpft hat. Jetzt redet er über sich selbst und nicht mehr in absurden Wortphrasen. Er ist recht einsam, lebt unter ärmlichen Verhältnissen in einer Hütte im Wald. In Minsk steht in der Innenstadt ein großes Denkmal, das an die gefallenen Afghanistan-Kämpfer erinnert. Ich schaue es mir am nächsten Morgen an. Zuvor habe ich noch erfahren, dass besonders viele Weißrussen ins ferne Afghanistan geschickt wurden. Die Begründung war: Sie würden sich aufgrund der großen kulturellen und geographischen Distanz den Afghanen weniger nahe fühlen als andere Ostblockbürger und weniger Probleme haben, dort zu kämpfen und zu töten. Das 1996 erbaute Denkmal ist riesig und in realsozialistischer Manier gestaltet. Es enthält keinen impliziten Kommentar zu diesem Krieg (es sei denn, er hat sich mir verschlossen), außer dem, die gefallenen Helden zu ehren. Die Namen von 771 gefallenen Soldaten sind dort in Stein gemeißelt. Männer ziehen mit entschlossenen Gesichtern in den Krieg, Frauen halten klagend Babys empor. Das Denkmal ist von innen begehbar, die Architektur setzt auf Pathos und Überwältigung. Was bei mir zurückbleibt, ist Beklemmung. Später werde ich noch gemeinsam mit Vera Dziadok das Denkmal für die ermordeten Juden suchen. Der kleine Obelisk im ehemaligen jüdischen Ghetto liegt auf einer Anhöhe zwischen Hochhäusern und Tannen versteckt. Man muss schon wissen, wo man ihn zu finden hat. Diese Ignoranz ist allerdings keine spezifisch belarussische. Ähnliche Erlebnisse hatte ich in Warschau, Vilnius und Kiew. Was man in Minsk bis heute nicht finden kann, ist ein Denkmal, das an die zahllosen Opfer des stalinistischen Terrors erinnert. Nachmittags leite ich eine Schreibwerkstatt für belarussische Jugendliche. Manche sind hierfür von außerhalb nach Minsk angereist. Ich werde von Vera Dziadok begleitet, die ganz hervorragende Übersetzungsarbeit für mich leistet. Ich stelle den Jugendlichen Aufgaben zum Schreiben, und sie schreiben sofort los. Falls man unterstellen würde, dass das Leben in einer Diktatur die Phantasie hemmt, hätte man sich hier vom Gegenteil überzeugen können. Ich habe noch nie erlebt, dass junge Menschen in so kurzer Zeit komplexe und tiefgründige Texte verfassen können. Die Themen unterscheiden sich auch nicht wesentlich von den Fragestellungen der Jugendlichen, die ich in Deutschland, Großbritannien, Frankreich oder in den Vereinigten Staaten unterrichtet habe. Was mir auffällt, ist, dass die belarussischen Jugendlichen mich respektvoller behandeln. Am nächsten Tag habe ich noch ein besonderes Erlebnis in Minsk - eines, das mich die bisweilen düsteren Erlebnisse der Vortage vergessen lässt. Ich darf die Schokoladenfabrik „Kommunarka“ (Genossin) besuchen. Sie existiert seit über 100 Jahren in Minsk und ist sehr groß. Hauptsächlich Frauen arbeiten hier, auch die Chefetage ist mit einer Doppelführungsspitze weiblich besetzt. Auf High Heels empfängt die Vize-Direktorin Frau Tatjana Sajganowa uns drei — Vera Dziadok, Katarina Kopric (die Frau des Goethe-Institutsleiters Frank Baumann) und mich — und führt uns in ihr pralinenbewehrtes Büro. Sie ist sehr stark, beinahe exotisch geschminkt und hat pechschwarze knisternde Haare. Die Farben ihres Kostüms passen sich hervorragend den vielen schönen Verpackungen der Pralinenkästen an, die in Glaskästen und auf dem großen Cheftisch zu bewundern sind — kaum hat jemals eine Chefin ihre Produkte überzeugender präsentiert und repräsentiert als sie. Eines betriibt Tatjana Sajganowa jedoch sehr: Der Export in die Ukraine - immerhin macht er 20 Prozent des Umsatzes von Kommunarka aus - ist stark eingebrochen. Man verfolge die Situation in dem instabilen Nachbarland mit Argusaugen. Dabei rollt sie mit den glitzernd umrandeten Augen, so dass man keinen Zweifel daran hat, dass ihr wirklich nichts entgeht. Einen weiteren Kommentar zur Situation in der Ukraine erlaubt sie sich uns gegenüber jedoch nicht. Überhaupt höre ich in den Tagen in Minsk nur wenige vorsichtige Äußerungen über das Nachbarland. Zwei Haltungen schienen vorzuhertschen: „Die haben Mut, das würden wir uns hier nicht trauen“ — und: „Zum Glück passiert so etwas bei uns nicht - hier bleibt es ruhig und stabil. So ein Chaos ist gefährlich!“ Nach der ersten Verkostung im Bürozimmer — wir durften noch Nachbauten von Sportpalästen und des KGB-Gebäudes aus Schokolade bewundern — müssen wir alle merkwürdige hauchdünne Mäntelchen überziehen, für unsere Schuhe gibt es auch Plastikhäubchen — wegen der Hygiene. Denn jetzt geht es in die Hallen, in denen die Schokolade produziert wird. Unsere Chefin stöckelt entschlossen voran durch die — hochmodernen — Fabrikhallen. Es riecht teuflisch gut nach Schokolade. Stolz werden uns die Maschinen zum Conchieren gezeigt: „deutsche und österreichische Fabrikate!“ Wir dürfen überall direkt vom Fließband kosten. Belarussinnen in den gleichen weißen Mäntelchen strahlen uns breit an. Sie haben sicher auch einen hohen Endorphinspiegel. Am Ende hätte ich fast einen Zuckerschock erlitten. Zurück im Hotel warnt man mich. Geh’ bloß am Abend nicht allein an die Bar! Nein, das habe ich auch nicht vor. Mich hatte die stilisierte Figur, eine Tabledancerin über dem Eingang, schon abgeschreckt. Aber was wäre denn nun derart schlimm daran?, wage ich doch zu fragen. Denn ich beobachte einfach gern Menschen, besonders auf Reisen. Alkohol ist gar nicht mein Ding - ich bin cher ein Schokoholic. Wie man schon bemerkt haben dürfte. Die Antwort, die mir die freundliche Kollegin vom Goethe-Institut gibt, ist: „Beobachten?! Das kannst Du hier vergessen. Alles- ALLES, was zwei Beine und zwei Arme hat — wird hier abgeschleppt. Selbst dein Kollege“, nun wird ein männlicher Name genannt, „hat das schon am eigenen Leib erfahren müssen!“ Bei dieser Antwort erinnere ich mich an ähnlich aussehende Bars in anderen osteuropäischen Ländern. Hier wurden die gemeinhin in „westlichen“ Bars geltenden, mehr auf verbalen als gleich auf taktilen Kontakt setzenden Anbandel-Rituale stets schnurstracks übersprungen — überflüssiger Tand. Man musste schon sehr deutlich werden, um seine Heiße Schokolade (wenigstens diese Getränkewahl wirkte meist verstörend) noch in Ruhe — allein — austrinken zu können. Mir fällt eine Kneipennacht in Tiraspol — Transnistrien — wieder ein, in der alle um mich herum sturzbetrunken waren, nur ich fühlte mich lediglich sanft überzuckert und fand ohne Hilfe mein Zimmer wieder. Gehorsam gehe ich gleich ins Bett. Schließlich muss ich morgen früh aufstehen, es geht zurück nach Berlin-Schönefeld. Schon bin ich wieder auf dem Spielzeugflughafen bei Minsk. Ich bin in heiterrer Verfassung als bei meiner Ankunft. Es ist Sonntag, aber es gibt wieder kaum Gäste. Das Personal ist sehr freundlich, man hat ja nicht viel zu tun und Zeit für den einen oder anderen Plausch. Und schon werden die Seen, Siimpfe und Wälder unter mir kleiner und kleiner. Ich werde wehmütig, möchte wiederkommen. Es gibt noch so viel zu entdecken in diesem Land. Zwei Stunden später habe ich in Berlin am Kudamm eine Verabredung und gönne mir im berühmten Cafe Kranzler ein paar Pralinen. Ganz so gut wie die belarussischen sind sie nicht. Tanja Dückers, geb. 1968 in Berlin, Schriftstellerin, Publizistin, Kunsthistorikerin. Zu ihren wichtigsten Veröffentlichungen zählen die Prosawerke „Spielzone“ (1999), „Cafe Brazil (2001), „Himmelskörper“ (2003), „Der Längste Tag des Jahres“ (2006) und „Hausers Zimmer“ (2011), der Essayband „Morgen nach Utopia“ (2007), das Theaterstück „Grüße aus Transnistrien“ sowie die Lyrikbände »Lufipost (2001), „Mehrsprachige Tomaten“ (2004) und „Fundbüros und Verstecke“ (2012). Sie schreibt für verschiedene Zeitungen und Magazine, u.a. seit 2008 monatlich als Essayistin in den Bereichen Politik und Gesellschaft für die ZEIT Online, zuvor war sie Kolumnistin der „Frankfurter Rundschau“ und des Magazins „bücher“. Seit 2012 stellt sie im rbb (Rundfunk Berlin-Brandenburg) in der Sendung „Die Literaturagenten“ neue Bücher vor. Regelmäßig schreibt sie auch Kunstkritiken, derzeit für die Berliner Morgenpost und die Jungle World. Für ihr Schaffen hat sie zahlreiche Preise und Stipendien erhalten. In ZW erschien in Nr. 4/2014, S. 20-23, das von ihr gestaltete Porträt des Objektkünstlers Jürgen Walter. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin. (www.tanjadueckers.de) April 2015 31